Sozialwissenschaften

Zur Seele Europas – Christentum und freiheitlicher Verfassungsstaat

Prof. Dr. Manfred Spieker · 
05.10.2011

Die These, daß der freiheitliche Verfassungsstaat in Europa gegen die christlichen Kirchen habe durchgesetzt werden müssen, scheint sich schnell bestätigen zu lassen. Wurde nicht die Französische Revolution, die weithin als Geburtsstunde des modernen Verfassungsstaates gilt, von der katholischen Kirche bekämpft? Sind die Forderungen nach Grund- und Menschenrechten nicht auf den erbitterten Widerstand der Päpste gestoßen? Haben die evangelischen Landeskirchen in Deutschland nicht dem Bündnis von Thron und Altar und dem als summepiscopus amtierenden Landesherren nachgetrauert, als die Monarchie längst hinweggefegt und durch die Demokratie ersetzt worden war? Wo immer in Europa der freiheitliche Verfassungsstaat auftrat oder sich weiter entwickelte, scheint es zu Konflikten mit den Kirchen gekommen zu sein.

Die These, daß der freiheitliche Verfassungsstaat in Europa gegen die christlichen Kirchen habe durchgesetzt werden müssen, scheint sich schnell bestätigen zu lassen. Wurde nicht die Französische Revolution, die weithin als Geburtsstunde des modernen Verfassungsstaates gilt, von der katholischen Kirche bekämpft? Sind die Forderungen nach Grund- und Menschenrechten nicht auf den erbitterten Widerstand der Päpste gestoßen? Haben die evangelischen Landeskirchen in Deutschland nicht dem Bündnis von Thron und Altar und dem als summepiscopus amtierenden Landesherren nachgetrauert, als die Monarchie längst hinweggefegt und durch die Demokratie ersetzt worden war? Wo immer in Europa der freiheitliche Verfassungsstaat auftrat oder sich weiter entwickelte, scheint es zu Konflikten mit den Kirchen gekommen zu sein.

Eine genauere Betrachtung der politischen Ideengeschichte und der Entwicklung politischer Ordnungen zeigt jedoch, daß das Christentum nicht nur nicht der Gegner, sondern der Geburtshelfer des freiheitlichen Verfassungsstaates war. Gerade das Christentum vermittelte und vermittelt jene inneren Antriebe und Bindungskräfte, von denen der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt, die er aber selbst nicht garantieren kann. Das Christentum ist die Seele Europas.

1. Die Unterscheidung von Spiritualia und Temporalia 

Das Christentum – Geburtshelfer des freiheitlichen Verfassungsstaates? Diese These ist schon deshalb erläuterungsbedürftig, weil das Konzept des Verfassungsstaates älter ist als das Christentum. Schon die aristotelische politische Philosophie wird beherrscht von der Frage nach der besten Verfassung. Aus den Konflikten der ersten Christen mit den politisch-religiösen Autoritäten Roms entwickelte sich die bis heute gültige und den freiheitlichen Verfassungsstaat tragende Unterscheidung zwischen Temporalia und Spiritualia, zwischen Politik und Religion. Nicht nur die Polis, die Welt schlechthin wird entgöttlicht. Die Politik wird relativiert, die Herrschaftsgewalt des Königs wird beschränkt. Das Christentum leitet einen Säkularisierungsprozeß ein, der irreversibel ist.

2. Der freiheitliche Verfassungsstaat 

Der freiheitliche Verfassungsstaat setzt die Unterscheidung von Spiritualia und Temporalia voraus. Sein eigentliches Ziel ist jedoch die Sicherung der Freiheit des Bürgers. Er beruht auf einem anthropologischen Fundament, in dessen Mittelpunkt der Begriff der Person steht. Der Person kommt eine Würde zu, die jedes irdische Gut übersteigt, die in allen Bereichen der Gesellschaft – in Politik, Wirtschaft, Kultur – Geltung beansprucht und dem Staat vorausliegt. Sie ist vom Staat, unter Umständen aber auch gegen ihn zu schützen. Aus dieser Würde ergeben sich Rechte und Pflichten, die ebenfalls dem Staat vorausliegen und deren Schutz und Förderung seine Legitimitätsgrundlage ist. In geradezu klassischer Weise bringt dies Art. 1 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt (Abs. 1). Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Abs. 2).“

In dieser anthropologischen Fundierung des freiheitlichen Verfassungsstaates ist der Einfluß des Christentums unübersehbar. Die Menschenrechte sind das Fundament des freiheitlichen Verfassungsstaates. Sie gehen von einem personalen Menschenbild aus. Der Staat ist zwar für die Durchsetzung der Menschenrechte von Bedeutung, er konstituiert sie aber nicht. Sie haben eine naturrechtliche Wurzel. Der Mensch hat diese Rechte, weil er Mensch ist. Diese Rechte sind deshalb universal gültig.

Aus der Erkenntnis der Würde und der Freiheit der Person ergeben sich für eine freiheitliche Verfassungsordnung noch weitere Konsequenzen, die ebenfalls ein christliches Erbe in sich tragen und die Seele Europas prägen: die Demokratie, die Gewaltenteilung und die Zivilgesellschaft.

3. Der soziale Rechtsstaat 

Unübersehbar sind die Einflüsse des Christentums auf die Entwicklung des modernen Sozialstaats. Das neutestamentliche Gebot der Nächstenliebe setzte Energien für eine „Erwärmung“ des menschlichen Klimas in der Gesellschaft frei, die der antiken Gesellschaft nicht bekannt waren. Die Sorge für die Armen, die Witwen und die Waisen galt als Aufgabe des christlichen Gemeinwesens, deren sich die Klöster, die Orden und die Spitäler annahmen. Daß der Staat nicht nur Rechtsstaat, sondern Sozialstaat zu sein hat, daß er nicht nur für Recht und Sicherheit, sondern auch für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen zu sorgen hat, daß er die Bürger gegen Einkommensrisiken zu schützen hat, die aus Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit erwachsen, daß er soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche Integration zu gewährleisten hat, dies ist ein genuin christliches Erbe.

4. Die internationale Solidarität

Auch bei der Entwicklung einer internationalen Solidarität ist der Beitrag des Christentums groß. Sieht man einmal von den christlich geprägten europäischen Reichen des Mittelalters und der frühen Neuzeit ab, die noch keine nationalen Grenzen kannten, dann ist die die Nationen relativierende internationale Solidarität eine späte Frucht bitterer und blutiger Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Diese bitteren und blutigen Erfahrungen mußten Europa und die Welt machen, wenn Ideologien die politische Macht dominierten, die das Christentum verdrängten oder bekämpften, wie der Nationalismus, der Nationalsozialismus oder der Kommunismus. Initiativen zu einer Politik der internationalen Solidarität tragen unverkennbar die Spuren des christlichen Kulturkreises, mithin der Seele Europas. Dies gilt für den von Konrad Adenauer, Robert Schumann und Alice de Gasperi initiierten europäischen Einigungsprozeß wie auch für Konzepte und Institutionen zur Überwindung des Nord-Süd-Konflikts. Auch die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) 1919 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 tragen diese Spuren. Das drängendste Problem der internationalen Politik zu Beginn des 3. Jahrtausends ist die Überwindung oder wenigstens Milderung des Nord-Süd-Konflikts. Dem Christentum kommt dabei in Theorie und Praxis eine Schlüsselrolle zu.

5. Die soziale Marktwirtschaft 

Eine freiheitliche Verfassungsordnung bedarf auch einer ihr korrespondierenden Wirtschaftsordnung. Dies ist nach heute weltweit verbreiteter Überzeugung die soziale Marktwirtschaft. Ist auch in ihr ein christliches Erbe vorhanden? Die Antwort wird in mehrerlei Hinsicht differenzieren müssen. Die soziale Marktwirtschaft ist als Ordnungskonzept für die Wirtschaft erst ein halbes Jahrhundert alt. Sie will die Freiheit des Wettbewerbs mit sozialer Sicherheit verbinden. Sie will durch eine staatliche Rahmengesetzgebung die Vorteile des Marktes und zugleich die soziale Gerechtigkeit gewährleisten, also auch für jene menschenwürdige Lebens- bedingungen sichern, die sich am Leistungswettbewerb nicht beteiligen können.

Erst 1991 gibt es in beiden Kirchen eine gleichsam offizielle Rezeption des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft als jener Wirtschaftsordnung, die in der Logik der christlichen Soziallehre liegt. Die katholische Kirche hat dieses Konzept, ohne es beim Namen zu nennen, in der Enzyklika Centesimus Annus vom 1. Mai 1991 aufgegriffen. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat mit ihrer Denkschrift „Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft“ das Konzept der sozialen Marktwirtschaft im September 1991 ebenfalls als menschengerecht und sachgerecht gewürdigt.

6. Zusammenfassung 

Die Grundlagen einer freiheitlichen Verfassungsordnung zeigen, daß der freiheitliche Verfassungsstaat seine wesentlichen Elemente einer christlich geprägten Kultur verdankt. Die rechtsstaatliche Demokratie, die Menschenrechte und die Gewaltenteilung, die Zivilgesellschaft, die Sozialstaatlichkeit, die internationale Solidarität und die soziale Marktwirtschaft tragen mehr als nur Spuren jenes personalen Menschenbildes, das uns durch das Christentum geschenkt wurde. Der freiheitliche Verfassungsstaat muß deshalb nicht gegen das Christentum verteidigt werden. Es stellt keinen Angriff auf diesen dar. Eher muß das Christentum als Quelle gepflegt werden, die gewährleistet, daß aus dem Garten des freiheitlichen Verfassungsstaates keine Wüste, kein Archipel Gulag und kein Konzentrationslager wird. Das Kreuz ist gleichsam das Logo dieser Quelle. Es ist gewiß eine Zumutung, aber keine, die unterdrückt, sondern eine, die befreit und erlöst. Es ist die Seele Europas.

Manfred Spieker ist seit 1983 Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kirchen in den postkommunistischen Transformationsprozessen, Schutz des ungeborenen Lebens, Probleme der Wirtschaftsethik und des Sozialstaats und Friedensethik. Für das Professorenforum hielt er einen Vortrag zu „Die Rolle der Kirchen in den postkommunistischen Transformationsprozessen: Polnische Erfahrungen“ anläßlich des Symposiums Christliche Ethik und Gegenwart, Veranstalter: Ivane Javakhishvili Tbilisi State University, Tiflis, 5.-6.10. 2011.

Verwandte Dateien

Kontakt