Sozialwissenschaften, Theologie

Wie stark müssen bzw. dürfen Frauen sein?

Prof. Dr. Anna Maria Pircher-Friedrich · 
01.01.2004

Predigt in der Evangelischen Christuskirche in Meran am Sonntag, den 5. März 2000

Stärke, Macht, Kraft, Power und ähnliche sind heute viel zitierte Schlagwörter, passen sie ja auch gut in unsere Zeit. In eine Zeit gekennzeichnet durch den Wahn der Machbarkeit, der Beherrschbarkeit, des immer Mehr, immer Schneller und immer Besser.

Wettspiele der Macht zeigen sich in allen Gesellschafts- und Lebensbereichen. Im Zuge der Emanzipationsbewegungen verstärkt auch zwischen Mann und Frau.
In seinem Bestseller „ Männer sind anders, Frauen auch“ schreibt John Gray: „Männer schätzen es Macht zu haben, kompetent zu sein, effizient zu arbeiten und etwas zu leisten. Sie machen ständig etwas, um sich selbst zu beweisen, daß sie etwas können und entwickeln dabei ihre Fertigkeiten und ihre Kraft. Männliches Selbstverständnis definiert sich durch die Fähigkeit, etwas Greifbares hervorzubringen. Erfüllung finden sie in erster Linie im Erfolg. (…) Männer haben vorwiegend Sachen im Kopf, mit denen sie ihre Macht zum Ausdruck bringen, Dinge zu bewegen und ihre Ziele durchzusetzen.“ (J. Gray,1993) Frauen hingegen so Gray, „ haben andere Prioritäten. Sie schätzen Liebe, Kommunikation, Schönheit und Beziehungen. Sie verbringen einen Großteil ihrer Zeit, indem sie einander helfen und pflegen. Das weibliche Selbstbewußtsein definiert sich durch Gefühle und die Qualität von Beziehungen. Frauen erleben Erfüllung durch Teilen und Mitteilen.“ ( Gray, 1993)

Aus diesen Definitionen wird offensichtlich, daß Stärke und Kraft doch ausschließlich nur männliche Domäne sind. Auch im Duden wird stark mit viel Kraft habend, mächtig, Einfluß ausübend umschrieben und am Beispiel „ ein starker Mann „ umschrieben.

Vor diesem Hintergrund erhebt sich nun die Frage, ob Frauen überhaupt stark sein können?

Meine These lautet Ja. – eindeutig Ja , sie können und müssen gerade heute, in Anbetracht der vielfältigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problematik nicht nur stark, sondern sogar sehr stark sein und dürfen sich dabei auch nicht einschüchtern und entmutigen lassen.

Ich meine dabei nicht etwa Frauenpower gegen Männer, oder daß wir Frauen entgegen unserem Naturell, Manneskraft beweisen sollen indem wir uns vielleicht im Fitneß Studio Muskeln antrainieren, oder typisch männliche Verhaltensweisen übernehmen.

Gleichberechtigung kann in diesem Sinne nicht und niemals Gleichartigkeit bedeuten. Eine starke Frau ist nur dann stark, wenn sie Frau bleibt.
Wir sind nicht Frauen gegen die Männer, sondern Frauen mit den Männern, aus dem einen Grund, weil es unsere gemeinsame Aufgabe ist, diese Welt weiter zu bringen, Positives „hin-ein-zu-wirken“.
Es geht also darum, die große Herausforderung anzunehmen und die Stärke und den Mut zu entwickeln, die wir angesichts der heutigen Problematik brauchen, um unserem Auftrag in der Rolle als Frau gewachsen zu sein.

Ich bin davon überzeugt, daß die Welt mit all ihren Problemen sehr viele mutige und starke Frauen braucht.

Frauen, die entgegen einer vielfach einseitigen Überbetonung von Vernunft und Macht, die Größe und den Mut aufbringen, unabhängig von Position oder Funktion, ihre Sensibilität zu wahren, einen Beitrag zur Humanisierung der Welt, zu mehr Freude, Mut, Ästhetik, Lebensqualität und zu echtem Fortschritt im Sinne der Menschheit leisten. Hier sehe ich den einzigen Ausweg aus der Sackgasse in der wir uns befinden.

„ Ich denke, also bin ich.“ Was in Descartes berühmtem Ausspruch zum Ausdruck kommt, ist nicht weniger als das gesamte neuzeitliche Selbstverständnis des Menschen. Und dieses Selbstverständnis ist keineswegs selbstverständlich, erst zu dem Zeitpunkt nämlich, als die Kraft mythischer Weltbilder nachließ, kam ein menschliches Potential zur Entfaltung, von dem heute die Welt bestimmt ist: die Vernunft. Seit einiger Zeit ist nun die Vernunft in den Verruf geraten, dem Menschen nicht nur bestes zu bringen.

Wir stecken in einer tiefen Sinnkrise. In allen Lebensbereichen sind immer mehr ausgebrannte und innerlich leere Menschen zu finden. Um mit Viktor Frankl zu sprechen, haben diese Menschen zwar alles, was sie zum Leben brauchen, aber nichts wofür es sich zu leben lohnt.

Wir befinden uns in einer Krise der Wertorientierung. Damit ist gemeint eine Krise der Überzeugungen von dem, was Wert hat, was anzustreben und was abzulehnen ist, was höher und was niedriger zu bewerten ist, was vorzuziehen und was zurückzuziehen ist.

Aus diesem Vakuum ergeben sich zwei Gefährdungen– einerseits die einseitige Überschätzung der Vernunft anderseits eine extreme Überbetonung des Individualismus, einhergehend mit der Überbetonung von Einzelinteressen, von Vergnügen und Genuß als höchsten Gütern.

  • „ Max Weber hatte schon vorausgesagt, daß die positivistische Denkhaltung die Welt nicht retten und die Konsumgesellschaft die höheren Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigen könne, da erstere nur Fachmenschen ohne Geist und letztere nur Genußmenschen ohne Herz erzeuge.“

Die auf dem materialistischen Weltbild aufbauenden, einseitigen Modelle und Methoden zeigen in Wirtschaft und Gesellschaft immer weniger Problemlösungskompetenz. Ganzheitliches Denken und ganzheitliche Methoden im Sinne einer Kombination der „harten – männlichen“ und der „weichen – weiblichen“ Faktoren werden in Theorie und Praxis gefordert. So fordert z. B Jost Krippendorf, der bekannte Schweizer Wirtschaftsforscher, mehr weibliche Eigenschaften in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, nicht nur der Gleichberechtigung wegen, sondern weil der weibliche Stil gefühlvoller, integrativer, innovativer, und eher langfristiger orientiert ist als der männliche Stil des direkten, aggressiven, rationalen, machtbewussten und eher konservativen Denkens und Handelns. Wir, brauchen ein Umschalten vom männlichen Machtprinzip des Yang zum weiblichen Fühlprinzip des Yin.

Bei der Bestsellerautorin Gertrud Höhler ist zu lesen: „Der Mann hat die Welt, und die Frau hat den Mann. Über ihn nimmt sie Teil an der Welt. Und dies nicht einmal schlecht. Die Frau ist die Managerin des Mannes, ohne daß diese Tätigkeit gewürdigt würde.“ Und hier glaube ich gilt es anzusetzen:

Mit Freude kann ich immer wieder feststellen, daß es in ganz verschieden Funktionen und Aufgabengebieten, Frauen, starke Frauen, gibt., die Großartiges leisten und in aller Stille wirken und demnach sehr viel bewirken.

  • Hierin sehe ich die edelste und unübertreffliche Stärke der Frau.

Frauen, die es nicht nötig haben, daß ihre Tätigkeit, vielleicht weil auch nicht meßbar und erfassbar, gewürdigt wird, sondern Frauen mit Werten, Idealen und Visionen von einer besseren Welt.

Nach Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie und der Lehre vom Sinn, wird der Mensch erst dort ganz Mensch, wo er über sich selbst hinausreicht. Für diese Selbsttranszendez weist er auf zwei mögliche Wege: nämlich die liebende Zuwendung zu einem anderen Menschen oder die aufopfernde Hinwendung im Dienst an einer Sache, einer Gemeinschaft, einem Werk.

Selbstwerdung und Selbstentfaltung also in der Anspruchslosigkeit der Verwirklichung von Selbsttranszendez anstelle der vielfach lauthals zu Markt getragenen Forderung nach Selbstverwirklichung – das ist die Maxime, so Peter Zürn.

Hieran knüpft sich das Hauptanliegen meines Vortrages, nämlich die Auseinandersetzung mit der Fragestellung, wie wir von einer berechnenden in eine besinnende Kultur hineinwachsen können:

Der Philosoph André Comte-Sponville legt zutreffend dar, daß wir es weder der Welt der Wirtschaft noch derjenigen der Wissenschaft überlassen dürfen, sich selbst zu steuern und zu kontrollieren: Die technisch wissenschaftliche Ordnung ist eine Ordnung ohne Moral. Sie ist eine Ordnung der Fakten und alle Fakten sind gleichwertig.

Ich stimme Robert Salmon zu, wenn er fordert: wir brauchen also eine höhere Ordnung, die ich meinerseits als ethische Ordnung bezeichnen würde: die Ordnung der Liebe.

Als Botschafter dieser höheren Ordnung brauchen wir sehr viele starke Frauen, die in den verschiedensten Aufgabenbereichen wirken:

  • Frauen, die nicht in einer Männerwelt versuchen, den Mann in seinen Stärken zu kopieren, sondern vielmehr ihre intuitive weibliche Stärke der Emotionen mit ein bringen.
  • Frauen, die komplementär zum vorwiegend rationalen Denken und Handeln des Mannes mit gefühlsmäßiger Kraft und Stärke für mehr Lebensqualität sorgen:
  • Frauen, die ihre Kinder erziehen, indem sie ihnen christliche Werte vorleben und vermitteln, ihnen Mut zum Leben machen, sie zu liebenswürdigen Menschen in die Welt entlassen um liebesfähig einen Beitrag für diese Welt zu leisten,
  • Frauen, die die Kraft haben aus Situationen auszubrechen in denen sie gedemütigt und in ihrer Menschenwürde verletzt werden,
  • Frauen, die für Menschen in Not ein Herz haben, ihnen zuhören, ihnen ein bißchen Wärme schenken können,
  • Frauen, die Rationalität mit starker Emotionalität in c h r i s t l icher Nächstenliebe Werte zum Glücklichsein der Menschen verbinden können.
  • Frauen, die im leider nicht so selten tristen Berufsleben, das immer mehr gekennzeichnet ist durch Egoismus, Machtstreben, Ängste und Mobbing, sich aktiv um den Aufbau von Vertrauenskulturen bemühen, formelle und informelle Netzwerke pflegen, in denen es auch um die Übermittlung von Stimmungen, Gefühlen und Hoffnungen geht. Frauen, die zwischenmenschliche, kulturelle und ethische, also rational kaum erfassbare Dimensionen unseres Zusammenlebens begreifen und optimieren.
  • Frauen, die in Führungspositionen entgegen dem vielfach eingefahrenen Zynismus und Handlungspessimismus, sich mit Sinnfragen beschäftigen und für ihre Mitglieder Sinnmöglichkeiten bieten.
  • Kurzum Frauen, die den Mut haben, ein bißchen Liebe in jede Situation des Lebens zu bringen und die Welt ein kleines bißchen besser zu hinterlassen, als sie sie vorgefunden haben..

Auf die Frage, was der Mensch ist, gibt Karl Jaspers die wunderschöne Antwort: was der Mensch ist, das ist er durch die Sache, die er zur seinen macht.
Und in Anschluß an diese Aussage, meine ich, was eine Frau stark macht, und was letztendlich ihren Wert ausmacht, ist Fähigkeit sich auf ihr Gegenüber – was immer das auch sein mag, Menschen, Situationen, Aufgaben, einzulassen, in Liebe hinzugeben.

Die eigentliche Revolution, so Franz Alt, steht noch aus: die Revolution der Gewaltlosigkeit, die Revolution des Bewußtseins, die Revolution der Liebe.

In der Zukunft sieht Karl Jaspers den Raum der Möglichkeiten, den Raum unserer Freiheit. Die vor uns liegende Transformation einer Konsumgesellschaft in eine Kulturgesellschaft ist mit Sicherheit kein einfacher Prozeß. Dennoch kann diese Transformation im Großen wie im Kleinen tagtäglich mehr Gestalt bekommen, durch mutiges liebevolles Handeln inszeniert von starken Frauen.

Und ich darf schließen mit den Worten, die der Brahmane Rabindranath Tagore vor über 100 Jahren kurz vor seinem Tode an einen Freund geschrieben hat:

Wir sind in die Welt gekommen,

nicht nur,
daß wir sie erkennen,
sondern, daß wir sie bejahen.

Macht können wir durch Wissen erlangen,

aber zur Vollendung
gelangen wir nur durch die Liebe. 

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Prof. Dr. Anna Maria Pircher-Friedrich lehrt Unternehmensführung und Human Ressources Management an der Fachhochschule München. Sie ist italienische Staatsbürgerin und lebt in Meran, Italien. Nach der Matura als Privatistin an der Handelsoberschule Bozen absolvierte sie eine Ausbildung zur Gemeindesekretärin mit Abschluss und Praktikum in Bozen. Sie studierte Beriebswirtschaftslehre als Werkstudentin an der Universität Innsbruck (Mag. rer. soc. oec.). Danach folgte das Doktoratsstudium an der Universität Innsbruck (Dr. rer. soc. oec.), Abschluss mit Auszeichnung. 

Sie absolvierte eine Zusatzqualifikation in Logotherapie und Existenzanalyse sowie verschiedene Ausund Weiterbildungen zu den Inahalten: Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Kommunikation, ganzheitliche Lernmethoden, Pädagogik und Methodik. 

Anschrift:
Prof. Dr. Anna Maria Pircher-Friedrich

I – 39012 Meran
Hallergasse 8. 

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