Philosophie

Wie funktioniert „postfaktisch“?

Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter · 
01.02.2017
Psychologisieren

Ist es Ihnen schon einmal passiert, daß jemand auf Ihre Aussage, für die sie gute Gründe zu haben glaubten, antwortete: „Das kommt nur von deinen Gefühlen!“? So eine Antwort nervt, denn es kann ja sein, daß meine Gefühle mich irreleiten, aber wenn ich mich irre, kann ich das nur erkennen, wenn man mir Argumente gibt. Psychologisieren fördert nie die Erkenntnis, und oft genug hat der Psychologisierende weder gute Gründe für seine Annahme, daß der andere unrecht hat, noch für seine psychologische Annahme. Psychologisieren kann man als Trick verwenden, um die sachliche Diskussion zu umgehen und seine Meinung durchzudrücken.

Was hat das mit dem Wort „postfaktisch“ zu tun, welches die Gesellschaft für deutsche Sprache am 9. Dezember 2016 zum „Wort des Jahres“ erkor? In der Begründung heißt es:

„Das Kunstwort postfaktisch […] verweist darauf, dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen »die da oben« bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der »gefühlten Wahrheit« führt im »postfaktischen Zeitalter« zum Erfolg. […] Postfaktische Politik war beispielsweise der Wahlkampf gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU. Mit zum Teil gezielten Fehlinformationen schürten die Befürworter des Austritts den Unmut in der Bevölkerung, die tatsächlich am 23. Juni 2016 mehrheitlich für den Brexit stimmte. Ein Ergebnis postfaktischer Politik war auch der Triumph von Donald Trump, der mit Diskriminierungen und wahrheitswidrigen Behauptungen wie der Aussage, Barack Obama habe die Terrororganisation »Islamischer Staat« gegründet, in den USA zum Präsidenten gewählt wurde.“

Es kann ja stimmen, daß die Trump-Wähler und die Brexit-Wähler bloß von Gefühlen und durch „gezielte Fehlinformationen“ geleitet waren, aber um das zu zeigen und um sie von ihrer Meinung abzubringen, sollte man Argumente vortragen, anstatt psychologisierend zu postulieren, daß es ihnen „um Emotionen anstelle von Fakten“ gehe. Warum soll der Leser das denn glauben? Es könnte ja auch stimmen, daß die Brexit-Gegner die Fakten gegen sich hatten und sich durch bloße Gefühle oder etwas anderes Irrationales leiten ließen. Das ist eine Frage des Standpunktes. Die von der GfdS beschriebene Verwendungweise des Wortes „postfaktisch“ ist garantiert argumentfrei. Sie klagt in einem sonst für Konservative typischen Tonfall darüber, daß es „heute zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht“, betreibt aber gerade selbst die Diskussion abwürgendes Psychologisieren anstelle von Fakten.

Beispiele von „postfaktisch“

Sehen wir uns weitere Beispiele von „postfaktisch“-Aussagen an. Ariane Focke schrieb im Hessischen Rundfunk:

„[„Postfaktisch“ bezeichnet das Phänomen,] dass nämlich Fakten gegenüber Gefühlen eine untergeordnete Rolle spielen. Es scheint aber mehr und mehr um sich zu greifen, und immer mehr Politiker bedienen genau das. […] Es sind Zeiten, in denen Gefühle wie Hass, Wut und Angst mehr zählen als blanke Zahlen, Statistiken und Fakten. Und es ist die Zeit für populistische Parolen, die genau diese Grundstimmung aufgreifen und der scheinbaren Hilflosigkeit ein „Gefühl“ verleihen.“ „Fakten kann sie herunterbeten, mit Gefühlen tut sie sich dann doch schwerer. Sie, die stets wohlüberlegte, immer sachlich argumentierende Angela Merkel.“

Da psychologisiert die Autorin die einen, indem sie ihnen unterstellt, sie ließen sich durch Haß, Wut und Angst leiten, während sie Angela Merkel als „immer sachlich argumentierend“ bezeichnet. Das kann glauben, wer mag, der Text enthält aber keine sachlichen Argumente. Woher soll denn der Leser wissen, daß das, was die Autorin als „populistische Parolen“ bezeichnet, falsch ist? Der Text vermittelt manchem Leser, wenn er entsprechend geprägt ist, das Gefühl, daß der Text sachlich und rational sei, in Wirklichkeit ist er aber Stimmungsmache.

Felix Stephan schrieb am 9.12.16 in der Zeit in Bezug auf Trump und den Brexit:

„Um allerdings überhaupt in der Lage zu sein, sich miteinander zu verständigen, brauchen sie eine gemeinsame Basis und das war bislang die Vernunft. Seit Descartes versucht hat, logisch zu beweisen, dass er selbst existierte, anstatt sich einfach auf das Wort der Kirche zu verlassen, hatte sich außerhalb totalitärer Staaten ein gewisser Konsens durchgesetzt: Wir halten für wahr, was sich belegen lässt. Weil er nachweisen kann, dass die Erde rund ist, hätte Galileo Galilei heute keinen Prozess mehr zu befürchten. Das politische Jahr 2016 hat nun allerdings offenbart, dass dieser Konsens auch in demokratischen Gesellschaften nicht mehr unantastbar ist. Wir haben offenbar das Zeitalter faktischer Begründungen als Triebfeder unseres Handelns hinter uns gelassen.“

Der Ruf nach Vernunft ist angesichts der Popularität des Postmodernismus schon fast erfrischend, denn es ist ja tatsächlich gut und wichtig, danach zu streben, sich nicht durch bloße Gefühle, sondern durch Vernunft und Fakten leiten zu lassen. Aber die Gegner statt mit Argumenten mit der Unterstellung anzugreifen, faktische Begründungen interessierten sie gar nicht, ist eben gerade nicht vernünftig, sondern Stimmungsmache. Es kann ja stimmen, daß die Trump-Wähler und die Brexit-Wähler alle Fakten gegen sich hätten oder sich gar überhaupt nicht für Fakten interessierten, aber Begründung ist da wieder weit und breit keine zu sehen. Die Bemerkung, Galileo Galilei hätte heute wegen seiner These, „dass die Erde rund ist“, „keinen Prozess mehr zu befürchten“, ist übrigens auch unter Stimmungsmache zu verbuchen, denn wie der Wikipedia-Artikel „Myth of the Flat Earth“ darlegt (den es bezeichnenderweise nicht auf deutsch gibt), ist die Annahme, im Mittelalter habe man geglaubt, die Erde sei eine Scheibe, ein Mythos.

Wer verwendet das Wort „postfaktisch“?

Sehen wir uns mal an, wer das Wort „postfaktisch“ verwendet. Im öffentlichen Leben sagen oft Leute über andere, daß diese sich irrten oder lögen. Politiker sagen das über andere Politiker, Nicht-Politiker über Politiker, Journalisten über andere Politiker und Nicht-Journalisten über Journalisten. Seit einigen Jahren sagen immer mehr Leute über die etablierten Politiker und über die etablierten Medien und Journalisten, daß diese lögen. Es gibt Demonstrationen vor den Häusern etablierter Medien, auf denen das Wort „Lügenpresse“ skandiert wird. Die Establishment-Kritiker erheben den Lügenvorwurf gegen Aussagen des Establishments wie z.B. „Der Giftgaseinsatz in Damaskus am 21. August 2013 wurde von Präsident Bashar al-Assad oder seiner Regierung durchgeführt“, „Rußland hat die Krim annektiert“, „Die Kriminalitätsrate unter Flüchtlingen ist nur unwesentlich höher als in der Stammbevölkerung“ und „Die US-Wahl wurde durch Rußland manipuliert“.

Nun könnte man erwarten, daß diese Leute, welche so häufig Lügenvorwürfe erheben, dafür das Wort „postfaktisch“ verwenden. Das tun sie aber nicht, sondern es sind die etablierten Politiker und Medien, die das Wort verwenden. Und zwar greifen sie damit ihre Kritiker und die zwei Phänomene an, die den Establishment-Kritikern Auftrieb verleihen: den Brexit und Donald Trump.

In den heutigen Schlachten mit gegenseitigen Lügenvorwürfen verwendet also nur die eine Seite das Wort „postfaktisch“, nämlich die etablierten Journalisten und Politiker. Ist der Grund dafür, daß diese sich eben durch Fakten und Vernunft leiten lassen, während ihre Kritiker sich nur durch Gefühl, Angst und Wut leiten lassen? Kann sein. Könnte aber auch sein, daß die Establishment-Kritiker mehr durch Fakten und Vernunft geleitet sind als das Establishment. Der Begriff „postfaktisch“ trägt nicht nur nichts dazu bei, dies zu klären, sondern er wirkt einer sachlichen Diskussion sogar entgegen.

Die vernünftige Antwort auf die Vorwürfe der Establishment-Kritiker wären Fakten und Argumente. Genau das vermeiden die Kritisierten aber. Die „Postfaktisch“-Reaktion nährt genau den Vorwurf, den die Kritisierten beklagen: daß die etablierten Medien und Politiker arrogant sind und sich als Volkspädagogen gebärden. Genährt wird dieser Vorwurf auch dadurch, daß sie auf den „Lügenpresse“-Vorwurf nicht mit Argumenten und inhaltlichen Angriffen antworten, sondern mit Entrüstung darüber, daß dies eine schlimme Pauschalisierung sei. Die „Sprachkritische Aktion Unwort des Jahres“ wählte das Wort zum „Unwort des Jahres 2014“. Es kann ja sein, daß die Glaubwürdigkeit der so bezeichneten Medien höher ist als die Bezeichnung es suggeriert, aber dies kann man nur durch Fakten und Argumente und nicht durch moralische Entrüstung zeigen.

Die Funktionen von „postfaktisch“

Fassen wir zusammen, wie das Wort „postfaktisch“ funktioniert. Der Sprecher sagt mit ihm aus, daß eine bestimmte gegnerische Gruppe sich nicht von Fakten, sondern nur von Gefühlen leiten ließen, während er, der Sprecher sowie seine Gleichgesinnten, sich von den Fakten leiten ließen. Das können wir die „Postfaktisch-These“ nennen. Ferner kann er damit auch über jemanden sagen, daß dieser andere durch Appell an deren Gefühle in die Irre führe. Folgende Funktionen des Wortes lassen sich unterscheiden:

  1. Das Wort „postfaktisch“ dient der Psychologisierung, indem an die Stelle eines inhaltlichen Einwandes gegen die Meinungen der betreffenden Personen die Aussage tritt, diese ließen sich durch Gefühle statt durch Fakten leiten. Diese These ließe sich durch Argumente gegen die betreffenden Meinungen begründen, typischerweise tritt die Postfaktisch-These aber an die Stelle einer Begründung.
  2. Durch das Wort „postfaktisch“ stellt der Sprecher die angegriffene Gruppe ohne Begründung als dumm oder böse hin, indem er impliziert, daß sie durch Gefühle zu falschen Meinungen oder Handlungen geführt wird oder daß sie andere durch Gefühle in die Irre leitet.
  3. Durch das Wort „postfaktisch“ wird die eigene Position als selbstverständlich und offensichtlich richtig und die der Gegner als falsch hingestellt. Die Postfaktisch-These kann von einigen Lesern für eine Begründung gehalten werden, in diesem Falle liegt eine Pseudobegründung vor.
  4. Durch das Wort „postfaktisch“ vermeidet der Sprecher die inhaltliche Auseinandersetzung. Stellte der Sprecher der betreffenden Meinung seine eigene Meinung direkt entgegen, stellte sich dadurch dem Leser die Frage nach den Gründen, und der Leser sowie der Gegner wären zur Diskussion eingeladen. Indem der Sprecher von der inhaltlichen auf die psychologische Ebene übergeht, vermeidet er die inhaltliche Auseinandersetzung erstens dadurch, daß er über etwas anderes spricht, und zweitens dadurch, daß er die inhaltliche Diskussion abwürgt. Durch dieses Vorgehen kann der Sprecher unter Umständen wirkungsvoller seine Position verbreiten und den Gegner angreifen, vor allem dann, wenn die verfügbaren Argumente schwach sind.
  5. Durch das Wort „postfaktisch“ ruft der Sprecher beim Leser den Wunsch hervor, nicht zu den so Bezeichneten und ihren Unterstützern zu gehören. Denn sich dem Verdacht ausgesetzt zu sehen, sich nicht von Fakten, sondern von Gefühlen leiten zu lassen, erzeugt ein unangenehmes Gefühl.

Durch die Postfaktisch-These verbreitet der Sprecher seine Position also gerade nicht durch Fakten, sondern durch Stimmungsmache und Manipulation. Daraus folgt nicht, daß die durch die Postfaktisch-These angegriffenen Positionen richtig oder falsch sind. Dazu habe ich keine Stellung bezogen. Ich will nur behaupten, daß die Postfaktisch-These der Diskussion und der Wahrheitssuche schadet. Dadurch, daß sie einerseits zur Vernunft ruft und und dem Gegner vorwirft, sich durch Gefühle leiten zu lassen, andererseits aber die inhaltliche Diskussion vermeidet und stattdessen Stimmungsmache betreibt, ist sie geradezu perfide.

Alle sollten danach streben, sich nicht durch Gefühle, sondern durch Vernunft und Fakten leiten zu lassen. Vernünftige Auseinandersetzung geschieht nicht dadurch, daß der eine sagt, daß seine Position die vernünftige sei, sondern durch den Austausch von Argumenten. Das schließt nicht einmal aus, daß man in Diskussionen Thesen oder Argumente je nach Situation auch mal kämpferisch oder mit Emotionen vorträgt. Solange die Thesen und die Argumente die Grundlage bleiben, tut das der Vernunft keinen Abbruch. Nennen Sie Ihren Gegner bei Bedarf einen Lügner, einen Ehebrecher, einen Dieb oder einen Raufbold. Diese Worte legen wenigstens transparent einen konkreten Vorwurf auf den Tisch, der dann begründet oder bestritten werden kann.  Aber Worte wie „postfaktisch“ und auch „populistisch“, „rassistisch“, „diskriminierend“, „rechtsextrem“ und „fundamentalistisch“ verhindern die inhaltliche Diskussion und manipulieren.

Der Autor ist der Direktor der
Internationalen Akademie für Philosophie
im Fürstentum Liechtenstein
www.iap.li

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