Philosophie

Nietzsches Darwin-Schock

Prof. Dr. Edith Düsing · 
20.01.2000

Zur Diagnose des gegenwärtigen Nihilismus und seiner Ursachen im 19. Jahrhundert.

Einer Gewitterwolke gleich hängt über Nietzsches Denken das apokalyptische Gefühl, daß Schreckliches auf uns zukommt. In einer grundlegenden Kritik der Modernität formuliert er durchdringende Fragen, die – offenkundig mahnend – Unaufhaltsames aufzuhalten suchen: „Nimmt sich unser ganzes modernes Sein” nicht „wie Hybris und Gottlosigkeit aus”? „Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen”; „Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit”; „Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am ‘Heil’ der Seele!” (KSA 5, 357)

Zu wenig beachtet wird, wie zentral für Nietzsches Denkweg[1] seine Auseinandersetzung mit dem Theologen David Friedrich Strauß, dem Wegbereiter Bultmanns, und dem Naturforscher Charles Darwin gewesen ist. Die Behauptung, daß Nietzsche ohne Umschweife Darwins Lehre von der Entstehung der Arten durch natürliche Auslese im Kampf um die Existenz rezipiert hätte oder einfach sein Anhänger geworden sei, ist in Anbetracht des Schreckens, der ihn im Vertrautwerden mit dieser Theorie überfiel, als eine grobe Verkürzung unhaltbar. Ähnliches gilt für Nietzsches Auseinandersetzung mit Strauß: Ein mißbilligendes Widerstreben wird auf rätselvolle Weise schließlich ein Sich-überreden-Lassen zur Annahme von etwas ganz und gar nicht Erfreulichem: die Hinfälligkeit der historischen Authentizität der Evangelien. In allen Stadien von Nietzsches Denkweg hat die explizite oder auch nur implizite Auseinandersetzung mit Strauß und Darwin vulkanische ‘Kraterlöcher’ in die philosophische Weltansicht des Denkers geschlagen.

A) Nietzsche als Diagnostiker des Untergangs christlicher Kultur

In kaum überbietbarer Radikalität und Hellsichtigkeit hat Nietzsche die abgründig gefährlichen Konsequenzen zu Ende gedacht, die in der Entchristlichung des viele Jahrhunderte lang christlich geprägten Abendlandes liegen. Den Verlust des christlichen Glaubens, dessen Aushöhlung im Verlauf des 19. Jahrhunderts gewaltig eskaliert ist, und die ungeheure Folgelast dieses Verlierens diagnostiziert Nietzsche als die Katastrophe. Was sich verborgen vor der Sehfähigkeit vieler Augen, besonders derer von Fortschrittsgläubigen, ereignet, nämlich die tausendfältige Ausstrahlung eines Verlorenen, nicht mehr lebendig Seienden, dem gilt Nietzsches wache Aufmerksamkeit. Den Auswirkungen des verloren gehenden christlichen Glaubens spürt Nietzsche auf allen Bereichen nach: auf dem religiösen, ethischen, psychologischen, kulturellen, sozialen und politischen Bereich. Nietzsches gesamtes Denken bewegt sich in konzentrischen Kreisen um diesen Mittelpunkt einer diagnostischen Bestimmung des Gottesverlustes, des „Todes Gottes”, – wie er bewußt dramatisch provozierend formuliert –, in dessen Gefolge die Vereisung der menschlichen Lebenswelt und die Vereinsamung der Individuen steht, die dem Lockruf „kein Hirt und eineHerde” widerstehen (KSA 4,20).[2] Mit dem durchdringend erschütternden Wort vom ‘Tode’ Gottes, das später zur griffigen Parole eines dogmatischen Atheismus verfiel, hat Nietzsche sich nicht etwa angemaßt, über Dasein oder Nichtdasein Gottes befinden zu können, sondern hat das Absterben des Gottesglaubens im Bewußtsein der Moderne klarmachen wollen. Auf ähnliche Weise hat Martin Buber von der „Gottesfinsternis” als einer „Verfinsterung des Himmelslichts” gesprochen, die den „Charakter dieser Weltstunde” ausmache, in der wir leben; in Nietzsches Ausspruch, Gott sei ‘tot’, wir selbst hätten ihn getötet, sieht Buber „die Endsituation des Zeitalters pathetisch” zusammengefaßt. Nietzsche sieht in der Tat sich selbst als Diagnostiker einer „Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat”, deren Ursache darin liegt, „daß ‘Gott tot ist’”, d.h. daß der Glaube an den christlichen Gott „unglaubwürdig geworden” ist (KSA 3, 573).
Nietzsche sieht ein bedrohliches Zeitalter heraufziehen, wo die Menschheit nach dem Verlust der göttlichen Schöpfungsordnung einem trostlosen „Trümmerfelde” kostbarster bildnerischer „Entwürfe” gleicht, die ihren Bildner nicht kennen und deshalb auch nicht das Telos (Ziel) ihres Lebens und die am Mangel zielklarer Orientierung zugrunde gehen. Indem der Mensch seine Aufgabe und Stellung im Kosmos nicht mehr weiß, „fällt” er gleichsam aus dem „Mittelpunkt” des Kosmos heraus, hat keinen gewissen Standort des Zuhauseseins mehr, weiß nicht, wer er ist, woher er kommt, wohin er geht. ”Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‘Kind Gottes’ …) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‘durchbohrende Gefühl seines Nichts’?” (KSA 5, 404) Der unbedingte Wert des Menschen wird begründet durch die Gottes-Ebenbildlichkeit und -kindschaft, in Fragegestellt – im Gestus des Seufzers – durch die Deszendenzlehre über seine animalische Herkunft. Die blinde Mechanik bzw. (bei stochastischen Prozessen) bewußtlose Beliebigkeit in der Wirkungsweise der Naturursachen hebt Nietzsche hervor durch den Hinweis sowohl auf die „Ersetzlichkeit” der Spezies Mensch im ganzen als auch die Vertretbarkeit jedes Einzelnen durch irgendein anderes Exemplar der Gattung. Ist die Deszendenzlehre wahr, so gibt es keine einzigartigen personalen Wesen, und der Mensch ist hinsichtlich seines Wesens in die Gleichnislosigkeit geworfen, steht überall im Weltall nur noch sich selbst als einem Zufallsprodukt anonymer Natur gegenüber. Die differentia specifica, der Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier, wird wie nie zuvor ein äußerst beunruhigendes Problem, auf das Nietzsche immer wieder zurückkommt, mit Ernst, Humor oder Sarkasmus.

Bei den meisten Äußerungen Nietzsches zur Deszendenz-Hypothese fällt auf, wie fremd ihm jeglicher Optimismus der Annahme einer vermeintlichen Höherentwicklung ist. Der Mensch ist „das grausamste Tier” und stellt keinen Fortschritt gegenüber einem anderen Tier dar. Wenn wir den Menschen nicht von der Gottheit „ableiten”, sondern aus Naturursachen, so stellen wir ihn unter das Tier „zurück”. Denn zum Tiere im Unterschied zum Menschen gehört „die Unschuld”. Offensichtlich stellt für Nietzsche, und zwar zu Recht, die gedankliche Annahme des „Tier-geworden”-Seins des Menschen ohne jeden Vorbehalt eine bedeutsame Prämisse dar für den Substanzverlust christlicher Tradition und für den im Abendland damit zugleich mächtig anwachsenden Schatten des Nihilismus.

Wenn es einen Erdbebenforscher der Kultur gibt, so ist Nietzsche dieser Titel zuzusprechen, da er mit seismographischer Sicherheit und Genauigkeit – mit der Witterung eines verwundeten Tieres ausgestattet, womit er sich gern verglich – das geistige Schicksal das nachchristlichen Europa voraussah. Schon in der Jugendschrift, der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung (von 1874) zeichnet Nietzsche plastisch und vielschichtig eine kulturelle Gesamtdiagnose, die keineswegs nur vom eigenen Erleben in Atem gehalten ist, sondern vom geschichtlichen Bewußtsein eines angereicherten „furchtbaren Explosionsstoffes”, der sich eines Tages entzünden wird. Die Antwort des knapp dreißigjährigen Nietzsche auf die Frage, wie der tieferblickende, der wahre Philosoph „die Kultur unserer Zeit” ansieht, lautet: Er vermag Symptome einer „völligen Entwurzelung” wahrzunehmen. Denn „die Gewässer der Religion fluten ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maß und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände und Staaten werden von einer großartig verächtlichen Geldwirtschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind nicht mehr Leuchttürme oder Asyle, inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich unruhiger, gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei… Es sind ungeheure Kräfte da, aber… ganz und gar unbarmherzige”, die „schreckliche Erscheinungen” erwarten lassen und weitere „fundamentale Erschütterungen”. Die Unruhe im selbstsüchtigen Glücksjagen der Einzelnen bekunde ein implizites Wissen um die Gefahr, daß vielleicht bald „alle Jagdzeit zu Ende” sei. Wir leben in der Periode des „atomistischen Chaos”. Bald wird fast alles auf Erden nur noch durch „die gröbsten und bösesten Kräfte bestimmt, durch den Egoismus der Erwerbenden und die militärischen Gewaltherrscher.” (KSA 1, 366ff) Mit atomistischem Chaos meint Nietzsche, mit Demokrit-Anklang, hier ein Atomengewirr nicht in der Natur oder allgemein im Kosmos, sondern in der Gesellschaft, nämlich den „Atomenwirbel der Egoismen”.

In dieser beklemmend realistischen kulturellen Synopse dessen, was sich an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert anbahnt und abspielt, kommen für Nietzsche der „abflutenden” christlichen Religion und den erfolgreichen, anwendungsträchtigen Einzelwissenschaften Eckdaten-Stellung zu. Das sich auflösende „Festgeglaubte” sind im Unterschied zu den historisch-zufälligen die ewigen Wahrheiten, im besonderen diejenigen von der Gottheit Jesu und von der wesentlichen Unveränderlichkeit der – wie man bislang durchweg annahm – von Gott erschaffenen Arten. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hat niemand so wie Nietzsche den schleichenden Werteverfall diagnostiziert, der für uns hundert Jahre später offenkundig ist, mittlerweile jedoch viel zu wenig Aufhorchen, Befremden und Widerstand mehr zeitigt. Nietzsches Größe besteht darin, daß er als philosophischer Diagnostiker die entscheidenden Probleme des Zeitalters unerbittlich bohrend zur Sprache gebracht hat, über die seine Zeitgenossen biedermeierlich naiv hinwegträumten, – insbesondere das metaphysische Vakuum, das im Verlauf der Geschichte des 19. Jahrhunderts immer mächtiger aufgebrochen ist und das eine Tiefenlabilität der Menschen und ihre Anfälligkeit für Ideologien als Sog mit sich führt.

B) Nietzsches ‘Duell’ mit D.F. Strauß 

Ein Schicksalstag bricht über die Geschichte des Christentums und über langgehegtes Vertrauen auf die Heilige Schrift herein mit Erscheinen des Straußschen Lebens Jesu (zuerst 1835), das weithin Aufsehen erregt, viel umstritten wird und seinen Autor berühmt-berüchtigt macht. Denn er behauptet anhand seiner historischen Quellenkritik, weite Teile der Evangelien seien geschichtlich unglaubwürdige Erzählungen; er sondert alle für ihn mythischen Bestandteile von dem verschwindend kleinen, verbleibenden Rest eines historischen Jesus aus und versucht zu erklären, wie derart viele Mythen in Anknüpfung an diesen Jesus haben entstehen können. Ihre Entstehung sei zu erklären durch die mythenbildende Einbildungskraft, die unablässig in die Berichterstattung eingeflossen und von bewußter Erdichtung zu unterscheiden sei.

Wenige Ereignisse scheinen besser geeignet, den unheimlichen geistigen Erdrutsch um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum besser zu illustrieren als das folgende hintergründige Geschehen: Im Jahre 1835/36, kurz nach dem Tode Hegels, der in Nietzsches treffendem Urteil für das Umsichgreifen des Atheismus ein herausragender Verzögerer gewesen ist, hallt anläßlich des Straußschen Leben Jesu geradezu ein Entsetzensschrei durch die deutschen Lande, und etliche berufene Stimmen wie z.B. Tholuck spitzen alsbald die Feder, um seine schlimmen Thesen umgehend zu widerlegen. Strauß beklagt sich bitterlich über das Geächtetwerden allerwärts; auch wenn er wegen seiner schroffen Leugnung der Gottheit Christi nicht mehr den „Scheiterhaufen” riskiert habe, so sei doch bei Alt und Jung des Verfassers Strauß’ Name „die Losung für jede fluchenswerte Tat” geworden (Nachwort 4. Aufl. 261ff), obwohl er von Anbeginn seinen „Abfall” vom Christentum vollkommen gerechtfertigt habe. Ihm sei eben – diese Selbstaussage Straußens spießt Nietzsche erzürnt auf – „die Gabe(!) schonungslos zersetzender Kritik” verliehen worden, so daß er die evangelischen Berichte als nicht apostolische und zudem als überhaupt nicht geschichtliche habe aufdecken müssen; insbesondere die Ankündigung von Jesu Wiederkehr in den Wolken sei ihm als schwärmerisch-phantastische Selbstüberhebung des Menschen Jesu erschienen, und seine „Unsündlichkeit” lasse sich nur durch „Schwindel” behaupten (ebd. 272f). – Nun wurde aber der berühmt-berüchtigte D.F.Strauß im Verlauf der Jahre offenbar immer weniger berüchtigt und immer mehr berühmt, so daß der Historiograph Karl Hillebrand im Jahr 1875 die mutvolle Kühnheit des jungen, unbekannten Basler Professors Nietzsche belobigen konnte, der aus berechtigten Gründen einen „Liebling des Volkes” auf die Anklagebank zieht, den Hillebrand den „berühmten Feind des Christentums” tituliert.[4]
In weitsichtiger Überschau kennzeichnet Nietzsche die kulturell verheerende Folgelast, deren Initialzündung Strauß darstellt: Die bisher „höchsten Dinge”, nämlich der biblisch fundierte „Gottesglaube” und die „Religion des Kreuzes” Christi, haben sich auf einmal in unglaubwürdige „Mythen” verwandelt, in Geschichten und „Märchen”, die allein noch für Kinder Wahrheit darstellen. Es ist eine „furchtbare Neuigkeit”, erklärt Nietzsche, daß der vormals geglaubte Gott ‘tot’ ist, das jenseitige Leben „weg” ist; man hat damit auch dem diesseitigen Leben „die Pointe genommen”, insofern nämlich in unseren Erlebnissen „nicht mehr eine himmlische Güte und Erziehung” zum Ausdruck kommt, keine Furcht mehr vor den „Folgen der Gottlosigkeit” herrscht. Zuerst spielt dies Verlieren der „höchsten Dinge” sich im Bewußtsein Einzelner ab, bald aber wird der Verlust des Glaubens „ruchbar” unter allen, und es folgt daraus unabwendbar und breitenwirksam: das Aufhören von Ehrfurcht und Achtung, von „Autorität” und „Vertrauen”, es folgt alles in allem „das Leben nach dem Augenblick, nach dem gröbsten Ziele, nach dem Sichtbarsten” und schließlich ein „Experimentieren, ein Gefühl der Unverantwortlichkeit”, ja „die Lust an der Anarchie!” Überschauen wir überhaupt schon die Folgen der „Vernichtung der Religion und Metaphysik” und als Folgelast der Menschenwürde und der „Individual-Bedeutung”?! Wehe denen, die sich nun während des möglicherweise zu erwartenden „Rausches der Anarchie” zudringlich der Masse als ihre Heilande anbieten.[4] Es gibt in der Gesellschaft kein gemeinschaftlich anerkanntes Fundament mehr. „Sie werfen die Bilder um und sagen: es gibt nichts Hohes und Anbetungswürdiges” –, aber hört doch aus dieser „Wut gegen die Bilder” die „große Verachtung” gegen sich selbst heraus (KSA10,221), gibt Nietzsche gegen ein popularisierendes Freidenkertum, das sich derart gebärdet, mahnend zu bedenken. In Wahrheit aber erhebt sich „die eigentliche große Angst”, der gemäß die Welt ohne Gott „keinen Sinn mehr” hat und, – wenn für die Menschheit die Annahme der Existenz Gottes und ewiger Werte „dahingefallen” ist –, das Problem einer Gesetzgebung „neuer Werte” und Gütertafeln sich mit einer nie dagewesenen „Furchtbarkeit” zeigt. „Wer das Große nicht mehr in Gott findet, findet es überhaupt nicht vor und muß es leugnen oder – schaffen” (KSA 10, 32), so lautet Nietzsches Schlüsselthese, die zugleich den Schlüssel zu seiner gesamten Philosophie und zu seiner Zeitdiagnose liefert.

Eine vorzügliche Miniatur zur Ehrfurcht, zugleich eine Hymne auf die Bibel und in einem Zuge Abrechnung mit den „sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der ‘modernen Ideen’”, findet sich in Jenseits von Gut und Böse (§ 263). Nichts an diesen eingebildeten Gebildeten sei mehr „ekelerregend”, als ihr „Mangel an Scham” und ihre „bequeme Frechheit” des Auges und der Hand, die nichts mehr schont und niemals bereit und fähig ist, in Ehrfurcht anzuerkennen, daß sie nicht frech an alles rühren dürfe, daß es „heilige Erlebnisse gibt”, die zu achten eine höchste Steigerung der Humanität anzeigt. Im einfacheren Volke findet Nietzsche vergleichsweise mehr noch an „Takt der Ehrfurcht” als bei der „zeitungsbelesenen Halbwelt des Geistes”, den modernen Gebildeten. Die „Nuancen der Ehrfurcht” bei unterschiedlichen Personen bestimmen für einen Seelen-Ausforscher, wie Nietzsche es sein will, deren Rangordnung und für jede einzelne Seele deren „letzten Wert”. Zugleich aber ist das Ehrfurcht Gebietende der Prüfstein und die Probe auf die mögliche Gemeinheit mancher Natur, die dann auf einmal, plötzlich ihren „Schmutz” hervorspritzt, um das Erhabene zu beflecken, z. B. wenn ein Buch „mit den Zeichen des großen Schicksals”, im besonderen die Bibel „vorübergetragen” wird. „Die Art, mit der im ganzen bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrechterhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christentum verdankt:” Solche Bücher der „Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit” brauchen zum „Schutze” vor den Flachen, die sie primitiv anrühren, einer mächtigen „Autorität”, damit in Jahrtausenden, die dazu erforderlich sind, um die Bibel „auszuschöpfen und auszuraten”, dies Buch vor frevelhaftem Zugriff bewahrt bliebe. Die Halbgebildeten, klischeehaft Aufgeklärten jedoch sind für wahrhafte Ehrfurcht, für „ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern des Auges, ein Stillewerden…” gänzlich unfähig geworden; ihre Seele verarmt und vermag nichts Verehrungswürdiges mehr zu fühlen.

Indem Nietzsche den Mythenbegriff als Auslöser eines gewaltigen geistigen Erdrutsches hinstellt, verweist er auf den methodischen Schlüsselbegriff von D.F.Strauß, womit dieser die historische Authentizität und Glaubwürdigkeit der Evangelien, also der göttlichen Biographie des Erlösers Christus umzustürzen sucht. Dies war Nietzsche wohlbekannt. Im Nachwort seines Leben Jesu, kritisch bearbeitet, verlautbart Strauß sein eigentliches Ziel, nämlich „Offenbarung” und „Wunder” im Neuen Testament als Hirngespinste („Spuk”) zu erklären, um die Menschen von einem „drückenden Glaubensjoche” zu befreien. – Von J.J.Semler bis W.Vatke hin wurde der Mythenbegriff immer weiter ausgreifend, aber zunächst ausschließlich auf das Alte Testament angewandt. Im 19. Jahrhundert gebrauchte man ihn erstmalig und zögernd für das „Prachttor” von Jesu göttlichem Eingang in die Welt und für seinen feierlichen Ausgang aus ihr. Straußens Gewaltstreich war es vorbehalten, mit dem Mythenbegriff religionsgeschichtlich in rücksichtsloser Konsequenz das gesamte Leben Jesu von jeglichem Supranaturalismus eines für ihn bloß vermeintlichen Wunderursprungs in Gott zu entkleiden.

Die Hauptsache des Beweiszieles von Strauß in seinem Leben Jesu, kritisch bearbeitet, besteht darin, zu zeigen, „daß in der Person und dem Werke Jesu nichts Übernatürliches, nichts von der Art gewesen ist, das nun mit dem Bleigewicht einer unverbrüchlichen, blinden Glauben heischenden Autorität auf der Menschheit liegen bleiben müßte.”[5] Der Kritiker Strauß dünkt sich keinen „Frevel an dem Heiligen” zu begehen, wenn er es als einen in früheren Zeiten vielleicht wohltätigen, für die Zukunft jedoch „geradezu verderblichen Wahn hinwegräumt”, anzunehmen, von Jesus und von der persönlichen Stellung zu ihm hinge „das Seelenheil” des Menschen ab. Strauß geht bis zur völligen Disqualifizierung des Neuen Testaments als Geschichtsdokument. Im Schmelztiegel von Strauß’ vorbehaltloser Evangelien-Kritik, die wegen einzelner, vermeintlich legendärer Bestandteile oft ganze Geschichten austilgt und als Novum das gesamte – in der Aufklärung, im Idealismus und in der Romantik favorisierte – Johannes-Evangelium als gänzlich unhistorisch fortreißt, bleibt erschreckend wenig vom geschichtlichen Jesus übrig: Jesus als ein schlichter Mensch mit einem typischen Menschenschicksal, der das Scheitern seiner hohen Ideale erleben mußte und unglücklich im Bewußtsein der Gottverlassenheit gestorben ist. So wie Strauß den historischen Jesus sieht, kann dieser kein Gegenstand des Glaubens sein; er ist zwischen lauter Nebelgebilden eine so blasse, charakterarme, „geheimnisleere Persönlichkeit”, daß man nicht begreifen kann, wie jemand „Mut hatte, an ihn zu glauben” und Neigung, „seine Bedürftigkeit mit Sagenkränzen zu behängen”.[6] Allerdings ist seit dem Straußschen Leben Jesu und seiner dramatisch verschärften Fragestellung endgültig eine der historisch-kritischen Fragestellung ausweichende Theologie mit dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit belastet. Und nach seinem gewaltsam anmutenden Vorpreschen konnte theologiegeschichtlich jedes vorsichtigere Destruieren leichter den Anschein hoher Solidität gewinnen. Mit der Speerspitze des Mythenbegriffs operierend, verunsichert Strauß das geschichtliche Korrelat biblischen Glaubens ebenso wie Feuerbach mit seiner Religionspsychologie das metaphysische Korrelat des Glaubens an einen Gott der Liebe, der als menschliches Wunschprodukt bloß die Veräußerung aller Vollkommenheiten sei, die dem Menschen als dessen unverlierbares Eigentum zugehören sollen und deshalb, Gott-los, exklusiv für den Menschen eingeklagt werden.

Nietzsche lehnt in seiner ersten Unzeitgemäßen Betrachtung: David Strauß. Der Bekenner und der Schriftsteller (von 1873) die Hast und Rücksichtslosigkeit ab, mit der Strauß in seinem Buch Der alte und der neue Glaube (von 1872) die Bande christlichen Glaubens zerreißt und auf den Trümmern des von ihm destruierten „alten” einen modernen „neuen” errichten will. Insgesamt alarmierend für den Zustand deutscher Kultur und Urteilskraft scheint Nietzsche nicht allein der wissenschaftlich unsolide Argumentationsstil des Straußschen „Bekenntnisses”, sondern ebenso die Tatsache, daß ein vom Gehalt her so unbedeutendes Buch, in dem kein Gedanke enthalten ist, so Nietzsche erbost, der „wert wäre, als gut und neu bemerkt zu werden”, zu einem derart „skandalösen Erfolg” kommen konnte. Es erhielt binnen eines Jahres sechs Auflagen. In dem Umstand, daß Strauß sich selbst daraufhin als Stifter einer aufgeklärten Religion der Zukunft versteht und stolz auf eine große, im Wachsen begriffene Anhängerschar verweist, erblickt Nietzsche Anzeichen dafür, daß der seichte neue Religionsstifter seine private, dem Zeitgeiste huldigende Konfession als Maßstab für fortschrittliches Denken meint kanonisieren zu dürfen. „Halbwissen. – Das Halbwissen ist siegreicher als das Ganzwissen: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung faßlicher und überzeugender.” (KSA 2, 335) Die vernichtende Kritik an Strauß gehört zum Prozeß von Nietzsches Selbstverständigung darüber, was er selbst als Freiheit und Redlichkeit des Geistes und als mögliche Wahrheit im Kreuzfeuer naturwissenschaftlich motivierter Skepsis anzuerkennen vermag.

Über Straußens Absicht, zuerst mit seinem Leben Jesu und erst recht dann mit Der alte und der neue Glaube dem Christentum einen Todesstoß zu versetzen, ist Nietzsche sich völlig im klaren gewesen. Bewußt hat er sich den „berühmten Feind des Christentums” zur Zielscheibe gesetzt, und zwar nicht dessen rein theologisches Leben Jesu, sondern die Folgelast und Lebensernte im Spätwerk. Strauß betreibt in Nietzsches Sicht eine unverantwortliche Verharmlosung des grundstürzenden Verlustes der Gültigkeit und Gewißheit der Jahrhunderte lang tragenden christlichen Wahrheit über Gott als höchstes Gut, den Gott-Menschen Christus als Erlöser und über den Menschen als Gottes Abbild. Solcher ungeheure Verlust kann für Nietzsche nicht Anlaß bieten zu selbstgefälliger behaglicher Freude eines rein säkularen Menschen.

Worin besteht für Strauß der als neuer Glaube von ihm propagierte „Katechismus” moderner Ideen, die durch exakte Naturwissenschaft abgesichert sein sollen? – 1) Die ‘reine’ Lehre Darwins; 2) die christliche Religion ist zu begreifen als Phantasie- und Wunschprodukt des mythenwebenden menschlichen Bewußtseins (:Anleihe bei Feuerbach) – und infolgedessen zu verabschieden; 3) das Werteverhältnis zwischen Diesseits und Jenseits ist zugunsten des ersten umzukehren; sterbliche Seelen ohne ewige Zukunft müssen zusehen, – ähnlich propagiert Marx –, ein ‘Paradies’ auf Erden einzurichten; 4) die Fortschritte in Technik, Industrie, Astronomie, Chemie und v. a. Physiologie sollen das Wesen der Welt im ganzen begreiflich machen können. – Strauß selbst gliedert die simple Architektonik seines neuen Glaubens durch Aufstellung und Beantwortung folgender Leitfragen: Sind wir noch Christen? Haben wir noch Religion? Wie begreifen wir die Welt? Wie ordnen wir unser Leben?

In rückblickender, schroff zuspitzender Selbstdeutung nennt der späte Nietzsche seine frühe Schrift gegen Strauß „das böse Gelächter eines ‘sehr freien Geistes’ über einen solchen, der sich dafür hielt”. Der alte und der neue Glaube von Strauß mit seinem „Bierbank-Evangelium” sollte demaskiert werden. Durch Feststellung von Strauß als Typus des „satisfait” beansprucht Nietzsche, für die deutsche Sprache den Begriff Bildungsphilisters originär geprägt zu haben, der Kulturerlebnissen als Religionsersatz schwelgt und sich Halbwissen bzw. Halbbildung als fortschrittlicher und freier Geist geriert. Der deutsche Geschmack hatte Strauß’ Spätwerk als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes, ja Strauß als „klassischen” Prosaschreiber gerühmt. Er, Nietzsche aber hat diesen eklatanten Fehlgriff der Lächerlichkeit preisgegeben, und von daher ist seine Strauß kompromittierende Replik das „erste Attentat” – in Form eines geistigen „Duells” – auf eine substanzlos werdende deutsche Bildung gewesen. Ganz gezielt habe er sich, so erwägt Nietzsche retropektiv, seinen Kontrahenten ausgewählt: den „ersten deutschen Freigeist”, der aber im Grunde einer der seichten Denker der modernen Ideen sei. Nichts, so erklärt Nietzsche, sei ihm fremder geblieben als diese neue Art von „Freigeisterei”; mit solchen „libres penseurs”, die „unverbesserliche Flachköpfe und Hanswürste” der modernen Ideen sind, heißt es despektierlich, befinde er sich in „tieferem Zwiespalt” als mit deren traditionalen „Gegnern” (KSA6,317ff). Den vulgären Freigeistern fehlt, so wird die Frontlinie markiert, die „Leidenschaft” und das „Leiden” an diesen Ehrfurcht gebietenden Dingen, die sie mit leichter Hand destruieren.

Seinem Abschied von der Annahme einer Transzendenz des Geistes und der Seele gegenüber der Materie geht voraus, daß Nietzsche seinen tiefernsten christlichen Jugendglauben aus dem Pfarrhause des allzu früh verstorbenen Vaters verloren hat; solches Verlieren –, durch Nietzsches Lektüre von Strauß und Darwin wesentlich mitbedingt, – bedeutete für ihn ein an Reflexionen, sicher auch an Tränen reiches, das ganze Leben währende, Sichverabschieden. Während Strauß aktiv und kriegerisch gegen das Christentum seine „Lossagung” verkündet, spricht Nietzsche weitaus behutsamer von seiner mehr passiv erlittenen „Loslösung”, die keineswegs nur einen Triumph der Selbstbefreiung, sondern ebensosehr eine ganz persönliche Leidensgeschichte einschließt, die er – erbebend über den „Frevel” am Heiligtum, wo er anbeten lernte – rückhaltlos an sich selbst analysiert hat. Geistige Freiheit sich erobern, um, „nicht durch fremde Ideale tyrannisiert”, schöpferisch tätig sein zu können, erfolgt – so heißt es noch zarter und behutsamer – durch „Losmachung” seiner selbst und Entwurf eines Bildes von dem, „was mich bis dahin gefesselt hatte”: der Heilige, die Metaphysik, die höchste Moralität, alle bisherigen Ideale einbeschlossen – und dies zugleich in einem „Tribut der Dankbarkeit” (KSA 10, 501).

C) Nietzsches Darwin-Schock: Chaos sive Deus 

In einem Nachlaß-Aphorismus Der Darwinist reißt Nietzsche – mit einem Anflug von schwarzem Humor – in knapper Sentenz die für ihn unüberbrückbare Kluft auf zwischen traditionell-metaphysischem Wahrheitsanspruch und neuester naturwissenschaftlicher Forschung: Nach Augustinus sagt Gott: Ich bin die Wahrheit und das Leben – ego sum veritas et vita, dixit Dominus. „Schade darum”: Nach Darwin weiß Gott „nicht, was das Leben ist” und kann folglich nicht die Wahrheit sein (KSA 8, 572). Den Nihilismus bestimmt Nietzsche später als radikalen Umschlag vom Glauben: Gott ist die Wahrheit – bei Thomas: Deus est unum, verum, bonum – in die Meinung: Alles ist falsch oder: Alles ist nichts. Geschichtsphilosophisch spannt er den Bogen: Auf Hegels „gotische Himmelstürmerei” durch die Zentralstellung einer Vernunft, der die Wahrheit in ihrer auf Gott, das Absolute, hin transparenten Totalität zugänglich ist, erfolgt als Gegenschlag ein Sieg der antiteleologischen mechanistischen Denkweise als regulative Hypothese, wie Nietzsche betont, weil sie am wenigsten voraussetzt und gleichwohl zu begreifen sucht, wie bei größter „Unvernunft, nämlich ganz ohne Vernunft die Entwicklung bis herauf zum Menschen” möglich gewesen sein kann (KSA 11, 252f).

Die Frage, ob Nietzsche Darwinist oder Anti-Darwinist sei, ist in der Forschung unterschiedlich beantwortet worden. Die Sachlage erscheint paradox gespannt, da der Denker zwischen Affirmation und Negation wankt, vor allem beklagend, Darwin habe „den Geist vergessen” und kenne einzig den naturalistischen Kampf ums Dasein. Die Lösung der Frage muß darin gesucht werden, daß Nietzsche ineins mit seiner Darwin- Auf- und -Annahme sich in einen qualvollen Zwiespalt mit sich selbst verstrickt: Nach anfänglichem ingrimmigen Sichsträuben hat Nietzsche sich – anhaltend widerstrebend – in den Bann der Überzeugungskraft der Abstammungslehre ziehen lassen. Doch die von manchen in Darwin gefeierte vermeintliche Einsicht in einen naturgeschichtlichen Ursprung der Menschheit vermag Nietzsche zu keinem Zeitpunkt mit ungebrochener Freude aufzunehmen, – ebensowenig wie er Straußens Leben Jesu als eine Befreiung begrüßen kann von ‘Spinneweben’ theologisch-dogmatischen Denkens! Im Gegenteil ergießt Nietzsche seinen Zorn über D.F.Strauß, in dessen Gestalt Darwinismus und bewußte Vernichtung des Christentums konvergieren, insofern Strauß Darwin als einen der größten Wohltäter der Menschheit pries und zugleich Jesus als einen gescheiterten Idealisten schalt.

In allen Stadien seines Denkens bleibt Nietzsches prinzipielle Aufnahme der Deszendenz-Hypothese durchzittert vom Empfinden einer furchtbaren, bitterlichen Ausstoßung des Menschen aus der ehemals in Gott geborgenen Mitte des Seins. Meine These lautet auf eine genau zu bestimmende Ambivalenz Nietzsches in seiner Stellung zu Darwin, dessen Anfangswirkung ich plastisch abkürzend als ‘Schock’ bezeichnen möchte, dessen traumatischer Charakter wie ein ihn begleitender Schatten nie von Nietzsches Gedankenwelt gewichen ist. Pascalisch ausgedrückt lehnt Nietzsche gemäß einer ‘Logik des Herzens’ von Anbeginn Darwins im Descent of man ausgesprochene Lehre vom naturgeschichtlichen Ursprung des Menschen ab, bejaht diese Lehre jedoch, ebenso von Anbeginn des Vertrautwerdens mit ihr, gemäß einer Logik des Verstandes, also im Hinblick auf ihre frappierende Erklärungs- und Überzeugungskraft, d.h. aus intellektueller Redlichkeit. Ja, die Sachlage erscheint bei näherer Untersuchung noch komplexer: Nietzsche war sich erkenntnis-methodologisch durchaus im klaren über den ungesicherten Hypothesen-Status der Deszendenztheorie. Jedoch gerade weil er seinen ‘Herzens’-Wunsch, sie möge falsch sein, argwöhnisch durchschaute, zwang er sich erst recht, sie als gültig zu akzeptieren. Meine weitere These ist die, daß in Nietzsches späterem Begriff des europäischen Nihilismus und seiner unabwendbaren Heraufkunft die Hypothesen Darwins einen bedeutsamen integralen Bestandteil ausmachen. D.h. den Nihilismus als Schicksal Europas hätte Nietzsche ohne Erschüttertwerden durch Darwin in der Schärfe nicht prognostiziert. Unter fünf historischen Prämissen für die „Verdüsterung” der modernen Welt nennt Nietzsche als dritte „das Tierhafte”, das wir in unserer „eigenen Vergangenheit” akzeptieren müssen (KSA 9,90).

In Nietzsches Publikationen kann man eine anscheinend ‘verzögerte Reaktion’ auf den von Darwin ausgelösten Schrecken wahrnehmen, da Nietzsche eine annähernd zehn Jahre währende Zuflucht zu Schopenhauers Ethik und Metaphysik der Liebe nahm. Erst mit der Ablösung von Schopenhauers Liebes-Ethik und Leidens-Metaphysik findet die umfassende und ‘öffentliche’ Auseinandersetzung mit dem Inhalt des Darwin-Traumas statt. – Bemerkenswert erscheint, daß der Autor seine Abhandlung Über Wahrheit und Lüge trotz deren sprachlicher Brillanz nie veröffentlicht hat; in dieser Miniatur hat er sich insgeheim die denkerische Last seines ‘Darwin-Schocks’ in einem ersten ‘Rundumschlag’ von der Seele geschrieben. Der Gehalt dieser Schrift, einer Zeitbombe gleich, tickt unablässig im Hintergrund, um in Nietzsches freigeisterischen Schriften gezündet zu werden und im Zarathustra im Konzept des Übermenschen zu explodieren.

Anhand einer Parabel, sonach in der logischen Klammer eines bloßen Gedankenexperiments, erprobt Nietzsche die Darwin gemäße These eines evolutionär gattungsgeschichtlichen Entstandenseins des Intellekts oder Geistes, der nicht die Natur transzendiert, sondern deren Endprodukt ist. ‘Geist’ erwirkt unter dem Selektionsdruck optimale Umweltanpassung des über ihn verfügenden Organismus. In der Tradition der antiken materialistischen Erklärung des Weltbaus, an die Nietzsche philosophisch anknüpft, wird die Ordnung des Kosmos und insbesondere die Entstehung von Intelligenz aus zufälligen Kräftekonstellationen abgeleitet (Demokrit, Epikur, Lukrez). Naturkräfte werden als von der Gottheit unabhängiges, ihrer unbedürftiges ewiges Schicksal angesehen; Materie existiert von Ewigkeit her und wird immer sein. In der Schilderung Nietzsches fallen zwei Akzente auf, die einem kruden Materialismus widerstreiten: 1) Ein vom Abgrund der Unendlichkeit des Weltalls Sich-verschlungen-Fühlen, d.h. die mathematisch-physikalische Endlosigkeit des Raumes und der Zeit wird nicht primär als Triumph wissenschaftlichen Erkennens, das in grenzenlose Weiten vordringt, empfunden, sondern als Bedrohung des Nichtsseins und als Verlorenheit des Selbst; der Mensch wird folgerichtig als ein „Punkt im Werden” und Vergehen aller Dinge bestimmt; 2) ein überaus skeptisches Menschenbild, das an Pascals moralische Analyse von Eigenliebe, Verstellung, Lüge, ja Haß auf die Wahrheit in den Pensées gemahnt.

Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‘Weltgeschichte’: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte.” Es gibt – gemäß der argumentativ radikalen Folgerichtigkeit von Nietzsches Parabel – kein teleologisch sinnhaft geordnetes Reich der Zwecke mehr, keine vorausplanende Schöpfungsintelligenz und göttliche Wahl des Besten –, gemäß einer lex optimi (Leibniz), – als Grund der Weltverfassung und ihrer eschatologischen Vollendung, keine Perspektive über das irdische Leben hinaus gemäß der Maxime: Haec vita praeparatio est vitae aeternae (Comenius).

Daß Nietzsche sich gegen jeden „Traumidealismus” wendet, der die objektive und absolute Realität von Ideen – v.a. des Guten, Wahren, Schönen – annimmt, hängt offensichtlich mit der aus Darwins Lehre inspirierten Hypothese zusammen, die Nietzsche mit neukantianischem Anklang prägnant formuliert: „Höchste Evolution des Menschen”. „Die Formen des Intellekts sind aus der Materie entstanden, sehr allmählich.” Als erster hat Nietzsche die Idee einer – heute modischen und breitenwirksamen – evolutionären Erkenntnistheorie entworfen, allerdings eher hypothetisch als dogmatisch verfaßt sowie in einer bewußt konzipierten Ambivalenz stehend zwischen biologischem Naturalismus einerseits und moralistischer Kulturkritik andererseits. So notiert er sarkastisch, der Mensch sei das „mißratenste Tier” und die „Affen” seien viel zu „gutmütig”, als daß der Mensch von ihnen abstammen könnte. Die Gedanken der Nichtigkeit des Menschen angesichts eines blind-anonymen Kosmos und angesichts der Raubtiernatur des Menschen begleiten leitmotivisch Nietzsches Denken. Den Prozeß der Zivilisation erachtet er als erzwungene „Tierzähmung” des Menschen. Deshalb kennzeichnet er plastisch und dramatisch die mühsam errungene Gesittetheit und Kultur als ein „Apfelhäutchen über glühendem Chaos”. In den Ordnungsfunktionen des Bewußtseins spielt sich eine für das Weiterleben-Wollen ökonomisch günstige Verharmlosung und Vereinfachung grausamer Realität ab. In Wahrheit aber existiert der Mensch wie „auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend”! (KSA 10, 362) Innerseelisch und kosmisch gilt für Nietzsche, daß der Mensch „auf dem Erbarmungslosen”, dem „Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen” ruht, in einer Gleichgültigkeit seines Nichtwissens. Für Nietzsche gleicht Wahrheit kaum einer gerechten Göttin, sondern viel eher einem alles verschlingenden Moloch. Wahrheit ist, wenn es sie überhaupt gibt, etwas Furchterregendes; es ist die indirekt von ihm bezeugte Wahrheit des Nichtigseins von allem ohne Gott.

Wie aus Nachlaß-Reflexionen ersichtlich ist, sind es offenbar die Begriffe „Grausamkeit” (im Gegensatz zu „Güte” oder „Liebe”) und experimentelles „Spiel” (im Gegensatz zu göttlichem „Plan” oder „Vorsehung”) als Attribute der Natur, durch die Nietzsche das antike Weltbild des Heraklit (Zeus spielt; der Krieg als Vater aller Dinge) mit der neuen Deszendenzlehre Darwins verknüpft. „Die Ordnung in der Welt, das mühsamste und langsamste Resultat entsetzlicher Evolutionen als Wesen der Welt begriffen – Heraklit!” In endlos fortgesetzten Prozessen endlose Trümmerfelder von mißlungenen Individuen – „unter Millionen verderbender Welten einmal eine mögliche! Auch sie verdirbt!” Offensichtlich projiziert Nietzsche hier Thesen von Darwin in Heraklits Gedankenwelt. – Unter der Prämisse, daß wir Menschen als Zufallsprodukt entstanden, fremd im Weltall sind – „geht uns das Weltall nichts an, so wollen wir das Recht haben es zu verachten”! heißt es jugendlich-emphatisch – erfährt Nietzsche eine kosmisch ausgeweitete Du-losigkeit, eine „furchtbare Einsamkeit” des „letzten” Philosophen, der Metaphysik und Schöpfungstheologie als vergangene glaubt begraben zu müssen; Antlitz-los „umstarrt” ihn die Natur. Die erschütternde Gedanken- und Empfindungsbewegung des jungen Nietzsche vom Sommer 1872 bis zum Winter 1873/74 gipfelt in dem Wort, das exakt das Zentrum und die Aufwurfslinie des Erdbebens markiert, das anhaltend die Fundamente seines Denkens in Aufruhr gehalten hat: „Die entsetzliche Consequenz des Darwinismus, den ich übrigens für wahr halte”! Nietzsches Denken ist die immer wieder neue reflexive Einholung dieser entsetzlichen Konsequenz.

Der fundamentale Zusammenhang zwischen Gottesgewißheit und Gewißheit der Seele von sich selbst, den Augustinus ausspricht, wonach Gott den erschaffenen Wesen innerlich noch näher ist als sie sich selbst jemals nahe sein können, wird von Nietzsche indirekt bestätigt. Er entwirft „Reden des letzten Philosophen mit sich selbst”, da der Mensch mit dem Verlust der Schöpfungsordnung überall nur noch sich selbst als einem Echo-losen Wesen gegenübersteht: „Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre. – Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt – der Mensch.” Wehe mir! (KGW III/4,47ff)

Ist der Urgrund des Seins und das Worumwillen aller Dinge nicht göttliche Liebe, so sind die „Eingeweide” der Welt hohl und die Sterne anonym „mitleidslos”, alles Geschehen blindes Fatum, in welchem Zufall und Notwendigkeit koinzidieren. Die erschreckende Notwendigkeit, um ein Todesbewußtsein hinwegzuschieben, sich in eine Illusion von Liebe hineinspiegeln zu müssen, erklärt Nietzsche – darin S.Freud vorwegnehmend – in der Geburt der Tragödie als den unheimlichen Umstand prinzipieller Illusionsbedürftigkeit des Menschen. Die psychologische Notwendigkeit zur Produktion sänftigender Wahnvorspiegelungen gründet für Nietzsche darin, daß es nicht möglich ist, mit der ‘Wahrheit’ zu leben, der Wahrheit eines „öden” und „grausamen” Antlitzes der Natur. – Nietzsches Philosophie der Verzweiflung im Schatten des für „tot” gehaltenen christlichen Gottes ist wesentlich mitverursacht durch sein Fürwahrhalten der Lehre Darwins. In folgendem Aphorismus ist jedes Wort eine Art Weheruf: „Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier; und fletscht verständnisvoll die Zähne, wie um zu sagen: nicht weiter in dieser Richtung! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung [Utopismus]: der Weg, wohin die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es nichts!” (KSA 3, 53f) Ehemals war man vom Menschen als höchstem Zweck der Natur und Sinnmitte des Universums auf Grund der Schöpfungsordnung überzeugt, nun sind wir Menschen gleichsam „Götter in der Verbannung”; nur durch Irrtümer über seine Herkunft habe der Mensch sich wunderbar geistig emporheben, versittlichen, ja vergöttlichen können.

D) Das Ende der abendländischen Geistmetaphysik? 

Sind die alten Mauern zwischen Natur und Geist, Tier und Mensch, Physik und Moral durch Nietzsches Darwin-Rezeption endgültig zerbrochen? Ein „Ja” kann maximal ausgesprochen werden im Sinne einer niemals verifizierbaren Hypothesen-Wahrscheinlichkeit. Denn unsere „Einzigkeit” in der Welt ist „ach”, seufzt der Autor, eine „gar zu unwahrscheinliche Sache”; ist menschliche Dasein nur ein Teil von einem „Tropfen Leben” inmitten eines ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen aller Dinge? Unter dem Titel Die Grundirrtümer spricht Nietzsche plastisch zentrale Bestandstücke der abendländischen Geistmetaphysik, im wehmütigen Verlieren sie würdigend, an, „daß der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wundertäter,… das Übertier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Rätsels, der große Herrscher über die Natur und Verächter derselben … Vanitas vanitatum homo” (KSA 2, 547ff). Ohne diese wundervolle Selbst-(Über-)Schätzung des Menschen, ohne diese „Irrtümer” hinsichtlich seiner Freiheit, seiner souveränen, über die sinnliche Natur erhabenen Ichheit, seiner Gottähnlichkeit würde niemals ein hochkarätiges „Menschentum” entstanden sein. Naturwissenschaftlich veranlaßte Metaphysik-Kritik ist bei Nietzsche erstaunlich untrennbar verwoben mit hymnischen Preisungen ebendieser zum Abschied reifen Metaphysik!

Zu seinem eigenen empiriokritischen Unternehmen, eine Chemie der religiösen und moralischen Wertempfindungen zu entwickeln, – mit dem Ziel, zu zeigen, wie „die herrlichsten Farben” der Seele und des Geistes gleichsam aus niederen, ja „verachteten Stoffen” gewonnen sind, nämlich durch den bedeutsamen psychischen Akt der Sublimierung, – erklärt er in Metareflexion: „Grausamkeit, sich die schmutzigeEntstehung aller der höchsten Dinge einzugestehn”, d.h. zuzugeben, daß die „herrlichsten” Dinge aus verächtlichen Elementen entspringen! Grausam ist es ferner, sich „einzugestehen”, daß der Glaube an ewige Grundwahrheiten illusionär ist, daß auch „das Ich als geworden”, als bloßer „Punkt im Werden”, gedacht werden muß, daß wir in der Kritik unserer besten Handlungen Elemente finden, die „dem Bösen zugehören”, heißt es Luther-nahe (aber ohne Soteriologie), und daß es überhaupt „ein Kultus des Irrtums” war, heißt es mit Hinblick auf die Bedeutung der Religion, der den Menschen „so zart, tief, erfinderisch” gemacht hat. „Die Welt als Irrtum ist so bedeutungsreich und wundervoll”! ruft er emphatisch aus, worin indirekt das Bedeutungslose und Profane der empirisch-faktischen Welt ausgesprochen ist.

Das Ende der Metaphysik und Religion wird vom ‘frei’ gewordenen Geiste Nietzsches nicht einfach auf Grund freier Selbstermächtigung leichtfertig oder prometheisch verkündet, sondern, so ist zu betonen, mindestens ebenso sehr als Tragödie erlitten, als ein schicksalhaft über ihn hereingebrochenes Verhängnis. Fallen metaphysische Ansichten, die den Glauben an ein letztes, endgültiges Fundament verleihen, dahin, so verbleibt schließlich nur noch das kurzatmige, „aufgeregte Ephemeren-Dasein”, das den modernen Menschen zeichnet. Ohne Frömmigkeit, bedenkt Nietzsche, entbehrt unsere Kultur einer letzten inneren „Entschlossenheit” und „Beschwichtigung”. – Eine außerordentliche Verunsicherung der Menschen folgt aus dem Umstand, daß es kein allgemein anerkanntes Fundament als Hintergrund-Konsensus mehr gibt; weder im Christentum noch in der Antike, die der Humanismus als ideale Maßstäblichkeit hochhielt, noch in der Naturwissenschaft noch in der Philosophie liegt weiterhin eine „überstimmende Macht” von Grundüberzeugungen, so daß die Menschen sich „schwankend” zwischen unterschiedlichsten „Ansprüchen” hin und her bewegen.

Der moderne Geist, wenn nicht einmal mehr griechisches Maß ihn bändigt, nachdem ihn die Hoffnung auf ein Jenseits und auf eine mögliche himmliche Verklärung verließ, so prognostiziert Nietzsche, wird letztendlich in Angst versinken müssen, des näheren in Angst vor sich selbst, die vor ihm nur Kierkegaard untersucht hat. Seither ist der antinomistische moderne Geist mit seiner Unruhe und in seinem „Haß gegen Maß und Schranke” auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, „zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte…”. Die Angst wohnt für Nietzsche zeitunspezifisch überhaupt „im Innersten der menschlichen Phantasie”, d.h. inmitten der reproduktiven oder schöpferischen Einbildungskraft, die für J.G.Fichte noch das Zentralvermögen der mutvoll Welt konstruierenden Vernunft ausmachte.

Der Glaube, des guten Gottes Abbild zu sein, macht den Menschen besser und Gott ähnlicher; hingegen öffnet die Annahme, der Mensch sei im Grunde Tier, wird dies auch noch als Lehre ins Volk „hineingeschleudert”, „utilitaristischer Gemeinheit” Tor und Tür, ja die Schleusen zum Brutalen und Bösen. Daß der Mensch sich zu sittlicher Tugend emporhob, wurde nach Nietzsche durch nichts mehr befördert als durch die Vorstellung von dem Guten, von einem Gott, der das Gute will, von einer sinnlichen und eigensüchtigen Begierden entsagenden Seele und von der realen Verantwortlichkeit der Seele für ihre Taten und Gedanken. Im Vergleich mit Künstlern, Denkern, Leidenden, die z.B. Musik schaffen oder etwas vom verborgenen Segen der Krankheit erfahren, schilt Nietzsche den „Darwinismus eine Philosophie für Fleischerburschen”, die sich Schlüsse von der tierischen Entwicklung auf die menschliche erlaubt; aus der „Bestialität” und ihren Gesetzen unternimmt man es nun, – anhand von Stammbäumen, so dürfte gemeint sein, – „auch den Menschen bestialisch zu systematisieren”, wie es Herr Haeckel und seines gleichen wie D.F.Strauß tun, heißt es despektierlich.

E) Nihilismus ohne Entrinnen?

Was bedeutet Nihilismus? – „Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ‘Wozu?’” Nietzsche hat die Schreckenstiefe des Nihilismus ausgelotet, gedanklich und in seinem persönlichen Leben. Nihilismus heißt das Ernst- und Auf-sich-Nehmen der – an sich schlechthin unbeweisbaren, aber mutgemaßten – Annahme, daß Alles Nichts sei, daß Gott nicht sei, daß es keine ‘wahre Welt’ im Gegensatz zur bloß scheinbaren, kein objektiv Gutes, keine verbindlich gültigen Werte gebe und daß der Mensch zu unüberwindlicher Heillosigkeit verdammt sei; all’ sein Tun – und sei es auch vom Wahn der Freiheit und der Hoffnung möglichen Glückes illusioniert – ist tragisch, ist nichts als eine Aussaat von Verhängnissen! Nihilist ist, wer von der Welt, wie sie ist, „urteilt, sie sollte nicht sein, und von der Welt, wie sie sein sollte, urteilt, sie existiert nicht”.

In denkerischer Unerbittlichkeit und selbstquälerischer Leidenschaft diagnostiziert Nietzsche den Nihilismus, den er expliziert als Atheismus, Anomismus und pantragische Weltansicht, als das lebensbedrohend gefährliche, abschüssige Gefälle des Zeitalters. Der Nihilismus ist die Kehrseite einer alles durchdringenden Entchristlichung Europas an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Was vor den Augen der meisten verborgen unaufhaltsam voranschreitet, charakterisiert er als irreversiblen Übergang von tiefem Vertrauenauf eine sittliche Weltordnung in universalen Zweifel. Deshalb will er aufschrecken; zugleich aber treibt er kraft der brillanten Analyse das Geschehen, das er auf den Begriff bringt, furchtbar voran.

Vorbereitet wird die Nihilismus-Thematik im Frühjahr bis Herbst 1881, zu derselben Zeit, in der Nietzsche das gedankliche Motiv vom ‘Tode Gottes’ intoniert, und zwar durch die Frage nach den tiefgreifenden „Umwandlungen”, die konsequent aus den modernen „Lehren” erfolgen müssen, daß 1) „kein Gott für uns sorgt”, 2) es kein ewiges Sittengesetz gibt – d.i. eine atheistisch-unmoralische Menschheit, unser „Leben vorbeigeht” und niemand uns zur Verantwortung zieht, 3) daß „wir Tiere sind”. D.h. der Nihilismus als europäisches Geistesdrama erhebt sich 1) religionsphilosophisch durch die – im englischen und französischen Freidenkertum vorbereitete – Lehre von der Gottesferne, d.i. Deismus oder Atheismus, 2) ethisch durch Verneinen der Geltung spezifisch der Pflichten-Ethik, welche ein im Gewissen sich bekundendes göttliches Gesetz lehrt,[7] 3) naturphilosophisch durch den Darwinismus. Sollte Darwin Recht haben, so sind es „erhabene Irrtümer”, die den Menschen über das Tier erhoben haben. Die traditionelle metaphysische Natur- und Menschen-Erklärung entspricht dem höchsten Selbstwertgefühl des Menschen, währenddessen naturalistische Erklärungen unser Herz empören. Leider aber beweisen die besten Empfindungen nichts zugunsten des Empfundenen, so bedauert Nietzsche.

Im Herbst 1885 bis Herbst 1886 finden sich unter Leittiteln wie: Zur Geschichte der modernen Verdüsterungoder: Der europäische Nihilismus, durchflochten von der ihn nahezu verbrennenden Theodizee-Frage, die weitestgespannten Nachlaß-Entwürfe zum Nihilismusproblem. In synoptischer Zuspitzung wird hier das ‘Gott-ist-tot’-Motiv als die Ursache schlechthin für alle Arten von Pessimismus, für die „Sucht zum Anders, die Sucht zum Nein, endlich die Sucht zum Nichts” als Genuß ewiger Leere hingestellt und damit als „größte Gefahr” für mutbeseeltes Handeln. „Der Nihilismus steht vor der Tür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?” Es sei ein Irrtum anzunehmen, er beruhe auf „sozialen Notständen”, Korruption, seelischer, leiblicher oder intellektueller „Not”; denn solches alles ruft nicht eine „radikale Ablehnung von Wert”, „Sinn”, Verantwortung, Menschenwürde hervor und auch nicht eine merkwürdige Empfänglichkeit des Menschen für unterschiedlichste „Arten der Selbstbetäubung”, um über die ungeheuere „Leere” und über das „im Innersten” nicht Wissen, „wohinaus?” hinwegzukommen (KSA 10,660f). Mit einem prägnanten Satz, der die Geschichte der abendländischen Metaphysik umgreift, nämlich die Lehre von Gott als ens realissimum et perfectissimum, von dessen Abglanz einer Lichtes-Überfülle an Wahrheit und Güte alles andere Seiende graduell, je nach Nähe oder Ferne von seinem Ursprung, ebenfalls Wahrheitsfähigkeit und Güte empfängt, sucht Nietzsche das Unheimliche des Nihilismus zu enträtseln: Es ereignet sich als gesamteuropäisches Schicksal der „Rückschlag von ‘Gott ist die Wahrheit’ in den fanatischen Glauben ‘Alles ist falsch’.”

Die Zeit kommt, erläutert er, „wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeitlang nicht, wo aus, noch ein. Wir stürzen jählings in die entgegengesetzten Wertungen, mit dem gleichen Maße von Energie”, das eben eine solche extreme Überbewertung des Menschen im Menschen erzeugt hat (KSA 13, 69). Das „allgemeinste Zeichen” der modernen Zeit nennt Nietzsche, daß der Mensch in seinen eigenen Augen „unglaublich an Würde eingebüßt” hat, er, der über Jahrtausende sich als Mittelpunkt und „Tragödien-Held” des Daseins empfunden und darum gemüht hat, sich als verwandt mit der wertvolleren Seite allen Seins zu beweisen, – wie es alle Metaphysiker tun, die an der Würde des Menschen festhalten wollen. Das lähmende und zugleich beunruhigende Bewußtsein einer letzten inneren Ziellosigkeit entspringt dem Verlorenhaben des letzten Grundes, Gottes, worin menschliches Personsein gründet. Auf Augustinus geht die Annahme zurück, daß die Selbst-Definition der menschlichen Person allein im Gegenüber zur Definition des göttlich Guten zustande kommt, – und ebendiese Fundierungs-Ordnung bricht – nach Nietzsches Überschau – zusammen.

Die gelungenste säkulare ‘Prophetie’ über den im 20. Jahrhundert zu erwartenden sittlichen Verfall in Richtung auf einen praktizierten Nihilismus findet sich in der hintersinnig Fröhlichen Wissenschaft. Dort schildert Nietzsche (§ 343) seine denkerische Vision einer ungeheuren Logik von Schrecken: „Das größte neuere Ereignis – daß ‘Gott tot ist’, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht: ihnen muß unsere alte Welt täglich abendlicher, mißtrauischer, fremder, ‘älter’ scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das Ereignis selbst ist viel zu groß, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen vieler, als daß auch nur seine Kunde schon angelangt heißen dürfte: geschweige denn, daß viele bereits wüßten, was eigentlich sich damit begeben hat – und was alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muß, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war: zum Beispiel unsere ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriete heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfinsternis, derengleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat…?”

Nietzsche sieht die Heraufkunft des Nihilismus, des Zeitalters vollendeter Sinnlosigkeit, als unabwendbare Zukunft Europas in den nächsten zwei Jahrhunderten, die sich „seit langem schon mit einer Tortur der Spannung, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los [bewegt]: unruhig, gewaltsam, überstürzt: wie. ein Strom, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu besinnen. – Der hier das Wort nimmt, hat umgekehrt Nichts bisher getan als sich zu besinnen …”(KSA 13,189f). – Eine quälend überdeutliche Bewußtheit besaß Nietzsche hinsichtlich der Nichtigkeit, Verlorenheit, Hoffnungslosigkeit des modernen (postmodernen) Menschen. Viele Jahre lang durchleidet er den Verlust des für ihn, wie er meint, endgültig Verlorenen und vermag sich dabei gar nicht zu beruhigen und nach dem ‘Tode Gottes’ einfach zur Tagesordnung überzugehen. Den grenzenlosen Schmerz über den Verlust der Gottes-Beziehung konnte Nietzsche als gesamteuropäisches „Schicksal” deshalb so klar diagnostizieren, weil er ganz persönlich mit seinem Jugendglauben Gott in seinem Leben verloren hat, worüber besonders beredt seine Gedichte Zeugnis ablegen. Daß Nietzsche solchen wehmütig ihn durchbebenden Schmerz einer verzweifelnden Gottsuche kannte, ja diesem Schmerz wie ein tödlich verwundeter Schwan in hundert dramatisch bewegten Gesängen Ausdruck verleiht, macht ihn wider Willen zu einem Wahrheitszeugen. –

In einer sich selbst auferlegten Konsequenz unternimmt Nietzsche, so M.Trowitzsch, „ungeheure Vorstöße in Gebiete ohne Trost”, blickt schaudernd, „von seinen eigenen Wahrnehmungen verwundet”, in gewaltige Räume der Finsternis und des Nichts hinein.[8] Eine „mächtige Negation stürzt durch ihn hindurch”, das, wovon er sich durch Sich-hinein-Vertiefen fatalerweise hat überzeugen lassen, so daß er die nihilistischen Prämissen der Moderne „in ihre verheerenden Konsequenzen hinein fortschreibt” (ebd. 112) und dabei intellektuell dem recht gibt, das ihn persönlich innerlich todkrank werden läßt. Die Umwertung der Werte als zu Ende gebrachte Negationsbewegung führt für Nietzsche auf den tragischen Heroismus des ‘höheren’ Menschen, der die Schrecknisse und Abgründe des Daseins bejahend auf sich nimmt. – Der unendliche leere Raum des Nichts ist eine Folgebestimmung des Todes Gottes, wie Nietzsche ihn expliziert. „Wohin ist Gott? … Wir haben ihn getötet – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber … wohin bewegen wir uns? … Stürzen wir nicht fortwährend? … nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?” (Die Fröhliche Wissenschaft §125) Die totale Orientierungslosigkeit des von Gott, der Sonne des Guten, Losgelösten wird hier dargetan: Die Abkoppelung ist ein Sturz ins Nichts, in die Nichtigkeit, in das Nichtseiende. Je weiter ein Wesen sich von seinem Ursprung entfernt, um so weniger Seinsintensität und Einheit mit sich selbst kommt ihm zu; ist es nicht kon-zentrisch im Hinblick auf das höchste und beste Sein, so fällt es ex-zentrisch aus der Seinsfülle und Wesenhaftigkeit heraus.

Das Ungültigwerden aller Maßstäbe, die nicht mehr am exaktesten aller Maße, dem Urmaß des Guten geeicht sind, – oben, unten, gut, böse, alles wird relativ – illustriert Nietzsche in seiner Bedeutungsschwere durch ein Auseinanderbrechen des Kosmos: Paradox wird das „unendliche Nichts” beschworen, der Vorgang ist atemberaubend, und es versagen die Kategorien der Beschreibung, die eine Auflösung von Allem in Nichts aussagen sollen. Das Universum implodiert oder explodiert; existentiell geschieht, wie in Hölderlins Schicksalslied des Hyperion, ein unaufhaltsames heilloses und ungewisses Fallen ohne jeden Halt. Das Fazit wird von Nietzsche mit Anklang an Gorgianische Skepsis sowie an Dostojewskis Wort: Wenn Gott nicht existiert, dann ist alles erlaubt formuliert: „‘Nichts ist wahr, alles ist erlaubt’.” Aus Zarathustras Munde läßt er erklären: „Ich nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht, – nun müßt ihr die größte Probe einer edlen Artgeben. Denn hier ist die Bahn den Ruchlosen offen”! (KSA 11,88). Wenn ‘Schlechtweggekommene’ keinen metaphysischen Trost mehr kennen und nicht einmal mehr von glaubwürdiger traditionaler Moralität behütet sind, so können „Entrüstungspessimismus” und „Zerstörungslust” um sich greifen.

Die Bedeutsamkeit des Evangeliums von Jesus Christus, der als einzig fest gegründeter Grund von allen Seiten Halt gibt und alle Negativität des Denkens und der Liebeleere auffängt und überwindet, erstrahlt durch Nietzsches Nihilismus-Diagnose ex negativo in neuem Glanze. Biblisch Paulinisch kann ‘Nihilismus’ begriffen werden als Überantwortetsein, als Hineinstürzen in die Konsequenzen der Nichtigkeit des eigenen Sinnes;[9] solches Dahingegebensein des Menschen in die Verfinsterung seines Herzens einschließlich der praktischen Folgelasten wird von Paulus u. a. auf die Hybris zurückgeführt, die in einer Vertauschung der Position von Gott und Mensch liegt, wobei der Mensch sich zum Götzenbild für sich selbst erhebt und darin vermißt. Nach Paulus ist es Gott selbst, der der „verheerenden Konsequenz der Abwendung” von ihm ihren freien Lauf läßt, der in „widriger Weise” sein Gelingen in sich trägt, wobei Schöpfung in Chaos zurück-verwandelt wird. Indem Nietzsche seinem Erschrecken vor dem nihilistischen Absturz abendländischer Geschichte Ausdruck verleiht, kommentiert er unfreiwillig die Paulinische Darlegung hoffnungslosen Sichverlierens in Gottferne (vgl. Rö 1,18ff). Ineins mit der Weigerung, Gott zu danken und ihn zu ehren, haben des Menschen Gedanken sich dem Nichtigen zugewandt. Die Folge ist universale Hinfälligkeit alles Daseins, das sich selbst Gottes Gericht anheimgibt.

Was aber ist der „Erstickungsgewalt” vollendeter Sinnleere, dem „Eingeschlossensein” in das rasante Gefälle des „nihilistischen Banns”, was ist jener „gespensterhaften Fahrt ins Leere” (Trowitzsch, 117 f) gewachsen? Es muß eine unübertreffliche, alles umfassende Bejahung und Rechtfertigung sein; Nietzsche sucht – insbesondere in der mythologischen Figur Zarathustra – solches dionysisch überströmende Jasagen utopistisch selbst aufzubringen, als Produkt eigener Über-Anstrengung zu setzen. Paulus antwortet: Gegen das Nichtigwerden des Menschen und der gesamten in den Fall mithinabgezogenen Schöpfung hat Gott seinen Sohn Jesus Christus gesandt und nicht geschont, sondern „dahingegeben” an unserer Statt in die Folgerichtigkeit des Fluchs der Nichtigkeit. – Die im schlechten Gewissen nach Nietzsche rachsüchtig gegen sich selbst Partei ergreifende, ja sich folternde und auf Grund dieser durchdringenden, sich durchleuchtenden Verinnerlichung beinah sich zerstörende „Tierseele” vermag, da sie von Gott begnadeter Mensch ist, doch gerettet zu werden. Nietzsches tiefgründige Fragen, die dem Nihilismus und seiner Überwindung gelten: Gibt es eine entwurzeltere Unruhe als die „Unruhe der Ideallosigkeit”? –, gibt es ein tieferes Leid als das „Leiden am Mangel der großen Liebe”? sind einer Antwort fähig. Jesus heißt Er, durch dessen „Wunden wir geheilt” sind (Jesaja 53, 5). – Menschliche und denkerische Größe liegt in der von Nietzsche –, in radikal verstandener intellektueller Redlichkeit, – bis zum Zerreißen durchgehaltenen Spannung zwischen seinem experimentellen Versuch einerseits, ohne Zuflucht in ein illusionäres ‘Trost-Finale’ Seelengröße zu erringen und die Welt rein immanent ohne „Schleichwege” zu irgendwelchen „Hinterwelten” erklären zu wollen, und seinem hellsichtigen Wissen andererseits, daß eine essentiell mechanistische Welt eine „essentiell sinnlose Welt” ist.

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Prof. Dr. Edith Düsing, Jahrgang 1951, ab 1969 Studium an der Universität Köln, Fächer: Philosophie, Mathematik und Pädagogik; 1977 Promotion mit der Dissertation: „Die Problematik des Ichbegriffs”; 1984 (11.01.1984) Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln mit der Schrift: „Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel”. Veröffentlicht mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (im Verlag für Philosophie J. Dinter, Köln 1986); 1989 (Juni) Ernennung zur Außerplanmäßigen Professorin; 1984-2000 diverse Lehrstuhlvertretungen in Köln, Marburg, Mannheim und Duisburg; ab 1990 Ehrenamtliche Wahrnehmung einer Professur für Philosophie an der Gustav-Siewerth-Akademie.

Fußnoten

[1] Vorliegende Studie geht auf einen Vortrag zurück, gehalten im Juni 1996 auf der Hauptkonferenz der Studiengemeinschaft Wort und Wissen und ist inzwischen die Synopse des Buches der Verfasserin: Theologie – Darwinismus – Nihilismus. Nietzsches Denkweg, erscheint in: Studium Integrale: Philosophie, Stuttgart-Neuhausen 2001. (Erstveröffentlichung unter dem Titel: „Das Ende der abendländischen Geistmetaphysik?” in: Medizin und Ideologie, Heft 4 (1997), 20-30; unter dem Titel: „Das Ende des christlichen Abendlandes? Anmerkungen zu Nietzsches Darwin- und D. F. Strauß-Rezeption” in: Kein anderer Name. Die Einzigartigkeit Jesu Christi und das Gespräch mit nichtchristlichen Religionen. Festschrift für P. Beyerhaus, hrsg. Von Th. Schirrmacher, 482-500).

[2] Nietzsche wird – unter besonderer Berücksichtigung des neu edierten Nachlasses – zitiert nach der Kritischen Studienausgabe (: KSA) und der Kritischen Werk-Ausgabe (: KGW), hrsg. von M.Montinari und G.Colli.

[3] Hillebrand: Zeiten, Völker, Menschen, Bd 2. Von vielen werde Strauß’ Name mit Verehrung oder Liebe, von andern mit dem Gefühl des Hasses ausgesprochen (291). Nietzsche komme das Verdienst zu, ein „Korrektiv” gegen Strauß’ Denkweise zu geben und dadurch dagegen „anzukämpfen”, daß von der Autorität eines berühmten Namens verführt („geführt”), das „ganze höhere Leben der Nation nach einer Seite hinzureißen” bedroht ist (292). Denn fünfzig Generationen vor uns, denen wir unser Sein verdanken, haben „ihr ganzes höheres Leben nur in jenem Ideal” Christi gelebt: „Millionen von Tränen, Hoffnungen, Tröstungen des besten Teiles der Menschheit hängen am Kreuze, das den Gott getragen. Wie sollten wir nicht „mit Ehrfurcht aufblicken” zu diesem Glauben unserer Eltern, – auch wenn „der Gebildete” nicht mehr glaubt an die „Menschwerdung Gottes in Christo” zur Erlösung von den Folgen des Sündenfalls – und dies ist „das ganze Christentum”! (291f, 307)

[4] KSA 9, 200f. – Eine gefährliche Verführung zur Freigabe des Experiments und Selbstexperiments Mensch ist für Nietzsche offenbar an Darwins Theorie der Arten-Variabilität geknüpft. „Das Zeitalter der Experimente!” – die Behauptungen Darwins „sind zu prüfen” (KSA 9, 508). Ohne dergleichen empfehlen oder gar rechfertigen zu wollen, sieht Nietzsche nur schwer abwendbar eine – die Menschenwürde mißachtende – „ungeheure Experimentierstätte” voraus (KSA 13, 408f).

[5] Das Leben Jesu, 4. Aufl. Bd 1, XXIV.

[6] E.Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd 5, 504.

[7] 1882/ 83 notiert Nietzsche stichwortartig: Ich sehe etwas Furchtbares voraus: „Chaos”, „Alles Fluß”; „Nichts, was an sich wert hat – nichts, was befiehlt ‘du sollst’! (KSA 10, 137)

[8] Im Folgenden nehme ich mehrfach Bezug auf Michael Trowitzsch: „Nietzsche, theologisch”, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Tübingen 1997, Heft 1, 111-130.

[9] Paulus an die Römer 1, 21 ff. Für das Folgende s. M.Trowitzsch: „Nietzsche, theologisch”, 115-119.

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