Philosophie

Im Zweifelsfall gilt: Der Mensch ist gesund

Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz · 
27.12.2009

Ein Bestseller-Autor über Depressionen und den ganz normalen Wahnsinn. Dr. med. Dipl. theol. Lütz ist Chefarzt am katholischen Alexianer Krankenhaus in Köln und Mitglied im Direktorium der Päpstlichen Akademie für das Leben. Mit Lütz sprach Karsten Huhn.

INTERVIEW

„Im Zweifelsfall gilt: Der Mensch ist gesund“

Ein Bestseller-Autor über Depressionen und den ganz normalen Wahnsinn

Er ist der christliche Autor mit den meistverkauften Büchern in den letzten zwei Jahren: Manfred Lütz. Derzeit steht er mit seinem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde“ auf Platz 1 der Sachbuch- Bestsellerliste. Dr. med. Dipl. theol. Lütz studierte Medizin, Philosophie & katholische Theologie in Bonn und Rom. Er ist Chefarzt am katholischen Alexianer Krankenhaus in Köln und Mitglied im Direktorium der Päpstlichen Akademie für das Leben. Mit Lütz sprach Karsten Huhn.

idea: Herr Lütz, in Ihrem Buch „Irre! Wir behandeln die Falschen“ stellen Sie eine gewagte These auf: Hitler, Stalin, Mao und Osama bin Laden sind nicht psychisch krank, sondern, wie Sie sagen, „schrecklich normal“. Wir Normalen also sind das Problem. Wie kommen Sie denn darauf?

Lütz: Ich habe tagsüber mit psychisch Kranken zu tun, Menschen, die depressiv, schizophren oder manisch sind – alles sehr liebenswürdige Menschen. Dann komme ich abends nach Hause, schalte die Nachrichten ein und sehe Kriegshetzer, Wirtschaftskriminelle und rücksichtslose Egomanen. Da kann einem schon mal der ketzerische Gedanke kommen, dass wir möglicherweise die Falschen behandeln.

idea: Hitler und Stalin sind kein Fall für die Psychiatrie?

Lütz: Die großen Verbrecher der Menschheitsgeschichte waren nicht verrückt! Mit einer psychischen Erkrankung können Sie keinen Krieg führen. Dafür braucht man über einen längeren Zeitraum eine immense kriminelle Energie. Hitler war ein Verbrecher, er war böse – aber er war nicht verrückt! Wäre er verrückt gewesen, bräuchten wir uns nicht über ihn zu empören, denn dann wäre er Opfer einer psychischen Erkrankung und somit schuldunfähig gewesen. Mit ein paar Medikamenten und vor allem Arbeitstherapie für einen arbeitslosen Münchener Kunstmaler hätte man dann vielleicht den Zweiten Weltkrieg verhindern können.

idea: Das Böse lässt sich nicht wegtherapieren?

Lütz: Nein, das Böse ist Therapeuten nicht zugänglich. Durch eine Therapie können wir Störungen beheben, aber wir können dadurch niemanden zum guten Menschen machen.

Wozu noch Seelsorge?

idea: Psychiatrie beschäftigt sich mit der Diagnose und Therapie seelischer Erkrankungen – wozu braucht es da noch Seelsorge?

Lütz: Seelsorge ist viel mehr als Psychotherapie! Sie ist eine existenzielle Beziehung zwischen zwei Menschen. Dagegen ist die Beziehung zwischen Therapeut und Patient eine zweckgerichtete Beziehung auf Zeit für Geld. Doch den Sinn des Lebens gibt es nicht auf Zeit für Geld.

idea: Hätten Sie dem Spitzenfußballer Robert Enke helfen können?

Lütz: Robert Enke hat offensichtlich einen hervorragenden Psychiater gehabt. Ich war sehr beeindruckt von dem Mut, mit dem er neben Enkes Ehefrau vor die Presse getreten ist. Damit haben sie eine weitgehend ahnungslose Öffentlichkeit aufgeklärt über das schwere Leid einer phasenhaften Depression und all das übliche Geraune über angebliche Ursachen verhindert. Enke hatte eine liebende Frau, nette Kollegen, bei denen er sich wohlfühlte und die Fans standen hinter ihm …

Und er nahm sich das Leben

idea: Dennoch nahm Enke sich das Leben.

Lütz: Etwa 10% der Patienten, die an einer schweren phasenhaften Depression leiden, bringen sich irgendwann um. Das ist kein „Freitod“, denn es ist die Krankheit, die sie in den Tod treibt. Und es ist auch kein „Selbstmord“, denn sie werfen ihr Leben nicht leichtfertig weg. In einer humanen Psychiatrie sind Suizide nicht völlig zu verhindern, andernfalls müsste man Menschen mit lebensmüden Gedanken eine Kugel ans Bein schmieden und einen Wärter danebensetzen. Das wäre unmenschlich. Die schwere Depression kann man am besten verstehen als Stoffwechselstörung im Gehirn. Sie ist sehr leidvoll, aber man kann sie in den meisten Fällen heilen mit wirksamen Medikamenten und mit Psychotherapie. Doch die meisten Menschen wissen das nicht. Über psychische Erkrankungen herrschen leider heutzutage noch mittelalterliche Vorstellungen. Deswegen habe ich das Buch „Irre“ geschrieben, das den Versuch macht, alle Diagnosen und alle Therapien allgemeinverständlich und unterhaltsam rüberzubringen. Wenn es so ein Buch früher gegeben hätte, dann hätte Robert Enke in seinen gesunden Phasen vielleicht zu seinem Trainer gehen können und den über seine Depression aufgeklärt. Ich möchte erreichen, dass man über psychische Erkrankungen genauso redet wie über Lungenentzündung und Rheuma. Bei krankhaftem seelischen Leid muss man freilich die Rolle des Therapeuten und des Seelsorgers auseinanderhalten. Als Psychiater bin ich für den Patienten ein Symbol der Hoffnung auf Heilung. Der Seelsorger darf aber viel mehr als ich!

Was der Seelsorger darf

idea: Was darf er?

Lütz: Er darf von sich erzählen und er darf sagen: „Ich bete für dich, vertrau auf Jesus Christus!“ – er darf also über die wirklich wichtigen Dinge reden.

idea: Sie dürfen das nicht?

Lütz: Nein!

idea: Warum nicht?

Lütz: Weil dann die Gefahr besteht, dass ich einen Menschen manipuliere. Wenn ich einem Menschen mit den Methoden der Wissenschaft aus der Depression geholfen habe, dann habe ich für ihn natürlich eine hohe Autorität. Und wenn ich diese Autorität dazu missbrauche, diesem Menschen den Glauben aufzunötigen, dann trete ich ihm zu nahe. Die Glaubensentscheidung ist eine freie Entscheidung. Es ist mir wichtig, dass es an unserem Krankenhaus gute Seelsorger gibt, die die Patienten existenziell begleiten. Und wer eine schwere psychische Krise überwunden hat, der stellt sich oft tiefere Fragen als die oberflächlich plätschernden unheilbar Normalen.

Werden zu viele therapiert?

idea: Was kann der Seelsorger, was der Psychotherapeut nicht kann?

Lütz: Provozierend gesagt: Der Seelsorger kann echt sein, während ich als Therapeut letztlich künstlich bin, da ich in der Therapie methodisch mit Menschen rede.

idea: Trotzdem gehen die Leute mit ihren Problemen eher zum Psychiater als zum Priester.

Lütz: Das stimmt auch nicht immer. Es werden heute zu viele Menschen therapiert und gleichzeitig zu wenig. Das heißt, es werden Menschen behandelt, die gar nicht richtig krank sind, denn nicht jedes Tränchen ist gleich eine Depression und es gibt andererseits schwer Kranke, die nicht den Weg zum Arzt finden. Auch da versucht das Buch mehr Klarheit zu schaffen.

idea: Der Psychiater Klaus Dörner hat einmal schlicht die Zahlen zusammengerechnet, die über die Häufigkeit psychischer Störungen durch die Medien geistern. Wie viel Deutsche haben Angststörungen, Panikattacken, Essstörungen etc. Dabei kam heraus: 210 % der Deutschen sind psychotherapiebedürftig krank.

Lütz: Deshalb brauchen wir Zuwanderung! Aber im Ernst: Wir müssen jedenfalls vorsichtiger mit solchen Zahlen umgehen. Im Zweifelsfall gilt: Der Mensch ist gesund, auch wenn jeder ein paar Macken hat.

Es gibt keine Normalen

idea: „Wir alle werden verrückt geboren. Manche bleiben es“, schreibt der irische Schriftsteller Samuel Beckett (1906-1989) in seinem berühmten Theaterstück „Warten auf Godot“.

Lütz: Ein guter Satz – ich würde nur das Wort „verrückt“ durch „außergewöhnlich“ ersetzen. Denn eigentlich gibt es keine normalen Menschen, jeder Mensch ist unwiederholbar, das heißt, er ist ein einmaliges Geschöpf und Ebenbild Gottes. Wir sind nur alle in der Gefahr, uns normalisieren und mit den Mitteln der political correctness in Meinungsuniformen prügeln zu lassen. An diese Regeln halten sich die psychisch Kranken nicht – und so sorgen sie dafür, dass die humane Temperatur nicht unter den Gefrierpunkt sinkt.

idea: Nehmen psychische Krankheiten nicht massiv zu?

Lütz: Ich bin gegen solche Dramatisierungen – auch im christlichen Bereich! Manche sagen, die Leute glaubten nicht mehr genug an den lieben Gott, kein Wunder also, dass die Welt immer schrecklicher wird und die Praxen immer voller. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutete das: Wer glaubt, muss nicht leiden.

Wenn aber der christliche Glaube Freiheit von Leid garantieren würde, dann wäre Jesus Christus selbst wohl kein Christ gewesen – weil er gelitten hat. Predigten, die den Glauben als leuchtend schön und krankheitsfrei beschreiben, im Gegensatz zu einer glaubensfernen, psychisch kranken Welt, beruhen auf einem grotesken Missverständnis. Nach meiner Überzeugung ist die Zahl der schweren psychischen Erkrankungen in den letzten 100 Jahren in etwa konstant geblieben.

Gegen Panikmache

idea: Betreibt die Weltgesundheitsorganisation also Panikmache? Sie teilt mit, dass weltweit etwa 121 Millionen an einer Depression erkrankt seien. Dies sei eine „Zeitbombe“.

Lütz: Ich bin gegenüber solchen Aussagen skeptisch. Da wird oft mit hohen Zahlen operiert, um Betroffenheit zu erzielen. Nicht jede existenzielle Krise ist eine Depression. Wenn Männer im Krieg erschossen werden und die Frauen die Kinder allein erziehen müssen, ist das schweres Leid. Die Katastrophen dieser Welt lassen sich aber nicht dadurch lösen, dass man Antidepressiva verteilt.

idea: Weltweit beträgt der Umsatz für Antidepressiva etwa 25 Milliarden Dollar pro Jahr – ein Riesengeschäft!

Lütz: Auch hier bitte keine Schwarz-Weiß-Malerei! Antidepressiva sind bei mittleren und schweren Depressionen gut wirksame Medikamente …

idea: … sie sind ein Segen?

Lütz: Ja! Sie machen nicht abhängig, sie stellen den Menschen nicht ruhig und sie haben heute kaum noch Nebenwirkungen. Antidepressiva sind Heilmittel. Allerdings besteht ihre Wirkung bei bloß leichten Depressionen vor allem in der Renditeerhöhung der betreffenden Pharmaunternehmen.

idea: Haben Depressionen einen Sinn?

Lütz: Nein, Depressionen bedeuten zunächst mal Leid. Durch Leid kann man allerdings auch reifen. Das bedeutet natürlich nicht, dass man jemandem solches Leid wünscht.

idea: Nachdem Hiob seine Frau, seine Kinder und seinen Besitz verloren hatte, klagte er: „Verflucht sei der Tag, an dem ich geboren bin.“ Was würden Sie Hiob sagen, wenn er als Patient zu Ihnen käme?

Lütz: Hiob wäre sicher kein Fall für die Krankenkasse!

idea: Das verstehe ich nicht.

Lütz: Hiob war doch nicht krank! Er war kein Patient! Hiob befand sich in einer existenziellen Lebenskrise, er haderte mit Gott – und das mit einer wahnsinnigen Vitalität. Wenn jemand nach einem solchen Verlust traurig ist, weint und nicht mehr schlafen kann, ist das völlig normal. Ich würde mir ernsthafte Sorgen machen, wenn Hiob nicht traurig wäre!

idea: Sie würden Hiob also wieder nach Hause schicken?

Lütz: Ich würde ihn vielleicht zu einem weisen Seelsorger schicken. Und wenn er mein Freund wäre, würde ich mit ihm reden. Vorher würde ich meinen Kittel ausziehen.

idea: Antidepressiva hätten bei Hiob nicht geholfen?

Lütz: Nein! Davon hätte Hiob höchstens Mundtrockenheit bekommen.

idea: In den Psalmen (42 und 43) heißt es: „Warum betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?“ Welche Antwort haben Sie darauf?

Lütz: Als Chefarzt kann ich da keine Antwort bieten. Als Christ sage ich Ihnen: Weil du, meine Seele, auf das Heil in Jesus Christus wartest – und nicht auf kognitive Psychotherapie! Auch die Behandlung des Psalmbeters ginge sicher nicht zulasten der Krankenkasse.

Dämonisch?

idea: Es wird die Krankenkassen freuen, das zu hören. Jesus heilt einen Besessenen, indem er dessen Dämonen in eine Schweineherde fahren lässt …

Lütz: Man kann jede psychische Störung auch unter einer existenziellen Perspektive – zum Beispiel als Versuchung des Satans – sehen. Das gilt dann aber auch für körperliche Störungen, zum Beispiel für einen Beinbruch oder eine Grippe. Auf keinen Fall darf man die Welt der psychischen Krankheiten pauschal dem dämonischen Reich zuordnen. Damit würden psychisch Kranke diskriminiert.

idea: Vermutlich treiben Sie bei Ihren Patienten keine Dämonen aus.

Lütz: Nein, ich bin nicht Jesus, ich trage einen Kittel.

idea: Ist Ihre Sicht auf den christlichen Glauben nicht naiv? Der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, schrieb: „Wir sollen glauben, weil unsere Urväter geglaubt haben. Aber diese unsere Ahnen waren weit unwissender als wir, sie haben an Dinge geglaubt, die wir heute unmöglich annehmen können.“

Lütz: Das könnte man heute auch von der Psychoanalyse sagen! Freud ist doch längst überholt. Seine religionskritischen Schriften sind extrem langweilig, sie kommen fast völlig ohne wissenschaftliche Belege aus. So etwas würde heute nicht einmal als Diplomarbeit durchgehen. Aus Freuds Worten spricht der Wissenschaftsoptimismus des 19. Jahrhunderts, der zu einer Verachtung alles nicht Messbaren neigte. Wer sagt: „Ich glaube nur, was ich weiß“, woher will der eigentlich wissen, dass seine Frau ihn liebt – und er sie? Mit wissenschaftlichen Tests lässt sich das nicht nachweisen. Da hilft keine Messung der Testosteron- und Östrogenwerte oder der Hirnströme. Und ehe so ein wissensdurstiger Verliebter dann herausgefunden hätte, wo sich im Gehirn überhaupt das Verliebtheitsareal befindet, wäre er ohnehin schon nicht mehr im fruchtbaren Alter. Die Liebe ist eine innere Gewissheit und das ist viel mehr als Wissen.

idea: Für Freud war der Glaube an Gott eine psychische Störung.

Lütz: „Kollektive Zwangsneurose“ hat er dazu gesagt. Die Psychologie ist jedoch ungeeignet, um die Gottesfrage zu beantworten. Freud setzte voraus, dass Gott nicht existiert. Unter dieser Vorbedingung ist Gebet natürlich ein höchst merkwürdiges Phänomen: Man redet mit jemandem, der nicht da ist. In meinem Buch „Gott – Eine kleine Geschichte des Größten“ habe ich das aber auch mal umgedreht: Wenn Gott existiert, dann ist der Atheismus ein höchst merkwürdiges Phänomen: Man nimmt jemanden nicht wahr, obwohl er da ist – totaler Realitätsverlust, schwere Beziehungsstörung, höchst pathologisch! Mit der Psychologie kann man fast alles begründen, nur nicht, ob etwas existiert oder ob es nicht existiert.

idea: Ob Gott existiert oder nicht, bleibt also völlig offen?

Lütz: Nein, überhaupt nicht! Aber Gott ist nicht bloß die Antwort auf eine Frage nach Wissen, der Glaube an Gott ist die Antwort auf die Anrede durch unseren Herrn Jesus Christus.

idea: Woher wissen Sie selbst, dass es Gott gibt?

Lütz: Ich bin ihm begegnet in Menschen, im Wort Gottes und in der Kirche. Freilich halte ich es auch mit dem ersten Vatikanischen Konzil: Gott kann mit der Vernunft erkannt werden. Da bezieht sich das Konzil auf den Apostel Paulus (Brief an die Römer, Kapitel 1,20).

idea: Paulus hat allerdings gleich hinzugefügt, dass die Menschen Gott nicht verehrt und ihm nicht gedankt haben, obwohl sie von seiner Existenz wissen (Römer, 1,21).

Lütz: Jeder Mensch hat die Freiheit, sich Gott zu verschließen. Der existenzielle Glaube an den lebendigen Gott ist eben nicht das zwangsläufige Ergebnis einer mathematischen Gleichung. Gottesbeweise sind wie Liebesbeweise: Sie sind nicht zwingend, aber sie sind die wichtigsten Beweise unseres Lebens.

idea: Danke für das Gespräch!

(mit freundlicher Genehmigung von ideaSpektrum, 52/2009)

Kontakt