Sozialwissenschaften

Europas christliche Wurzeln und ihre Konsequenzen für die Bildung

Prof. Dr. Manfred Spieker · 
18.01.2013

Die tragenden Werte, die sich mit der europäischen Kultur untrennbar verbinden, sind die Würde der Person, die Herrschaft des Rechts und die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia, zwischen Geistlichem und Weltlichem. Sie machen die europäische Identität aus. Vortrag beim Kongress christlicher Führungskräfte am 18. 01.2013 in Leipzig

Was macht Europa aus?

Europa ist mehr als „eine Halbinsel Asiens” (Paul Valéry), mehr auch als ein Kontinent und mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Europa ist eine Idee, eine „Gesinnung” (Romano Guardini) [1]. Europa ist eine bestimmte Sehweise von Mensch, Gesellschaft und Welt, eine Wertegemeinschaft – trotz der Katastrophen in seiner Geschichte und in seiner Gegenwart. Als europäisch gilt „eine Lebensordnung, die getragen wird von beweglichen, erfinderischen, anpassungsfähigen Menschen, die bestimmt ist von Entdeckungsfreude und rationalem Zugriff auf die Welt; der die Individualität mehr bedeutet als die Masse, die Freiheit mehr als die Macht“ [2]. Daraus ließe sich bereits ein Katalog von Bildungszielen ableiten, die den Zielen des klassischen Gymnasiums alt- wie neusprachlicher Art entsprechen. Doch gemach. Die Konsequenzen für die Bildung sollen Schritt für Schritt angesprochen werden.

Die tragenden Werte, die sich mit der europäischen Kultur untrennbar verbinden, sind die Würde der Person, die Herrschaft des Rechts und die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia, zwischen Geistlichem und Weltlichem. Sie machen die europäische Identität aus. Sie sind untrennbar mit dem christlichen Glauben und den christlichen Traditionen verbunden. „Gewiß, die europäische Identität ist keine leicht erfassbare Wirklichkeit”, sagte Johannes Paul II. in einer Ansprache vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 8. Oktober 1988 in Straßburg. „Die weit zurückliegenden Quellgründe dieser Zivilisation”, so der Papst, „sind vielfältig. Sie stammen aus Griechenland und aus Rom, aus keltischem, germanischem und slawischem Boden, aus dem Christentum, das sie tief geprägt hat. Und wir wissen, welche Verschiedenheiten an Sprachen, Kulturen, Rechtstraditionen die Nationen, die Regionen und auch die Institutionen kennzeichnen! Aber im Hinblick auf die anderen Kontinente erscheint Europa wie eine einzige Einheit, auch wenn der innere Zusammenhang von denen, die zu Europa gehören, weniger klar erfasst wird. Dieser Blick kann Europa helfen, sich selbst besser wiederzufinden. In fast zwanzig Jahrhunderten hat das Christentum dazu beigetragen, eine Sicht der Welt und des Menschen zu entwickeln, die heute ein grundlegender Beitrag bleibt – jenseits der Zerrissenheit, der Schwächen, ja sogar der Versäumnisse der Christen selbst.“[3] Wie es um diese Zerrissenheit steht, zeigt die Statistik (2001). Von den 484 Millionen in den 27 Ländern der EU sind gut die Hälfte (54 %) Katholiken, 8,3 % Orthodoxe, 12,4 % Protestanten und 5,8 % Anglikaner und 3,6 % andere Christen. Bleiben noch rund 15 % Nichtchristen (darunter 2,7 % Muslime). In der Sicht der Welt, des Menschen und der Gesellschaft, die die spezifische Identität Europas geprägt haben, lassen sich sieben Dimensionen unterscheiden.

1. Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia

Die Unterscheidung zwischen geistlichen Angelegenheiten und weltlichen Dingen oder zwischen Religion und Politik steht am Anfang der modernen europäischen Identität. Im antiken Griechenland und im Imperium Romanum waren Religion und Politik noch eine Einheit. Diese Einheit führte viele der ersten Christen ins Martyrium, weil sie sich weigerten, den römischen Kaiser als einen Gott zu verehren – zu verdanken Jesu Aufforderung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist (Mt 22,21), zu verdanken seiner klaren, Judas irritierenden Feststellung, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei. Sie folgten vielmehr dem von Petrus in seinem Konflikt mit dem Hohen Rat in Jerusalem vorgezeichneten Weg „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen” (Apg 5,29), einem Weg, der in den Tod führen kann und für den es auch im Alten Testament schon Hinweise gibt. Aus den Konflikten der ersten Christen mit den politisch-religiösen Autoritäten entwickelte sich die bis heute gültige und den freiheitlichen Verfassungsstaat tragende Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia, zwischen Religion und Politik. Nicht nur die res publica, die Welt schlechthin wird entgöttlicht. Die Politik wird relativiert, die Herrschaftsgewalt des Königs beschränkt, selbst in der Welt der orthodoxen Christenheit, deren Weg in die Moderne anders verlief als der der westlichen Christenheit. Die orthodoxe Christenheit orientierte ihre Beziehungen zur staatlichen Gewalt immer am Prinzip der Symphonie. Aber auch sie unterschied und unterscheidet Spiritualia und Temporalia, wie der Sozialhirtenbrief der russisch-orthodoxen Kirche vom August 2000 zeigt.4 Das Christentum leitete einen Säkularisierungsprozess ein, der irreversibel ist. Gewiss setzt sich die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia mit allen ihren Konsequenzen nicht auf einen Schlag durch. Das Christentum wird erst einmal „Staatsreligion“. Politische Herrscher beanspruchen auch als Christen noch Jahrhunderte hindurch gewisse Kompetenzen in geistlichen Angelegenheiten – sei es bei der Ernennung der Bischöfe, der Papstwahl oder, nach der Reformation, bei der Bestimmung der Konfession der Untertanen. Aber der Investiturstreit des 11. Jahrhunderts war vorprogrammiert. In dem ihn zumindest im Prinzip beendenden Wormser Konkordat von 1122 wird die Unterscheidung zwischen Temporalia und Spiritualia bekräftigt. Sie ist ein wesentliches Element europäischer Identität. Auch wenn es noch einmal rund sechseinhalb Jahrhunderte dauerte, bis der definitiv auf weltliche Ziele beschränkte Staat in den USA in Erscheinung tritt, auch wenn Reformation und Gegenreformation dem Bündnis von Thron und Altar erst einmal zu neuer Blüte verhelfen und die „geistlichen Fürstentümer“ sich vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Spiritualia und Temporalia wie ein hölzernes Eisen ausnehmen, das Christentum hat die Entwicklung der griechischen Polis und der römischen res publica zu einem Kirche und Staat scheidenden Gemeinwesen mit wechselseitiger Beschränkung der Aufgaben und Zuständigkeiten ein für allemal besiegelt. „Dass die politische Geschichte der Neuzeit von weltlichen Staaten geprägt wird, ist eine direkte, gewissermaßen gewollte Frucht des Christentums.“[5] Die islamischen Staaten haben hier noch einen langen Weg vor sich, wie die arabischen Revolutionen der beiden vergangenen Jahre erneut gezeigt haben. So grundlegend der Einfluss des Christentums auf die Entstehung des modernen Staates ist, es gilt zwei Missverständnissen vorzubeugen: zum einen dem Missverständnis, die Grenze zwischen Spiritualiaund Temporalia sei immer eindeutig zu ziehen, zum anderen dem Missverständnis, diese Unterscheidung sei mit der Errichtung des freiheitlichen Verfassungsstaates ein für allemal gesichert. Was das erste Missverständnis betrifft, so wissen die Christen, dass die Grenzziehung zwischen Spiritualia und Temporalianicht immer einfach ist. Schon die res mixtae, die den Christen und Bürger gleichermaßen betreffenden Angelegenheiten, deren Regelung ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Kirche und Staat erfordert [6], zeigen, dass die Grenzziehung schwierig werden kann. Geradezu zum Problem aber muss sie werden, wenn der Staat beansprucht, die Grenze der Temporalia selbst bestimmen zu können, wie er es in der Französischen Revolution oder unter vielen kommunistischen Regierungen getan hat oder wenn die Kirchen in der Ausübung des Wächteramtes, das ihnen vom Evangelium aufgetragen ist, die Grenze überschreiten, wofür die Befreiungstheologie von Leonardo Boff und Gustavo Gutierrez eine Reihe von Beispiele bietet [7]. Der Säkularisierungsprozess, den das Christentum einleitet, war zugleich die Voraussetzung dafür, dass die Menschen die Welt erforschen und sich untertan machen. „Durch den Anstoß der christlichen Offenbarung”, stellte die Sondersynode der Bischöfe für Europa 1991 in Rom fest,“… hat die Zivilisation Europas die Unterscheidung, wenn auch nicht die Trennung von religiöser und politischer Ordnung entdeckt, die so sehr zum menschlichen Fortschritt beiträgt.“ [8] Das Apostolische Schreiben Ecclesia in Europa vom 28. Juni 2003 bekräftigte diese Feststellung. Es zählt die Unterscheidung zwischen Politik und Religion zu jenen grundlegenden Werten Europas, „zu deren Aneignung das Christentum einen entscheidenden Beitrag geleistet“ habe [9]. Die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia führte so zusammen mit dem Herrschaftsauftrag Gottes an den Menschen zu einem neuen Umgang mit der Welt, zur Entwicklung der Wissenschaft und der Technik, die mit der europäischen Kultur untrennbar verbunden sind. „Der Glaube an Gott, den Schöpfer, hat“, so erklärte Papst Johannes Paul II. in seiner Rede vor dem Europarat 1988, „den Kosmos entmythifiziert und ihn der rationalen Erforschung durch den Menschen anheimgegeben“ [10]. Auch wenn sich diese Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia erst in einem Jahrhunderte währenden, konfliktreichen Prozess durchsetzte, sie war und ist die Grundlage der Begrenzung der politischen Macht und damit auch des freiheitlichen Verfassungsstaates. Sie hat „unermesslich viel zur Entwicklung der Freiheit im Westen beigetragen“ [11]. Einige Konsequenzen für die Bildung seien angedeutet: Eine Bildung, die Europas Identität gerecht werden will, ist auf einen soliden Unterricht in Geschichte, Religion, in Latein und Griechisch sowie in den modernen Sprachen angewiesen. Ein solider Unterricht in Geschichte schließt nicht nur die griechische und römische Antike sowie die Reformation, die sogenannte Aufklärung und die Nationalismen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts ein. Ein entsprechender Politik- oder Gemeinschaftskundeunterricht ist deshalb unverzichtbar. Ein solider Unterricht in Religion setzt voraus, dass Religionsunterricht ein ordentliches Schulfach bleibt – auch für Muslime – und er erfordert bei der Bestimmung der Curricula die Autonomie der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

2. Die Würde des Menschen

Der christliche Glaube schärft den Blick für den Wert des einzelnen Menschen, um dessentwillen Christus selbst Menschennatur angenommen hat. Der Mensch ist Person. Er hat eine unantastbare und unveräußerliche Würde, die – so hat es auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Abtreibungsstrafrecht 1993 festgehalten – „schon dem ungeborenen menschlichen Leben zukommt“ [12]. Als Person ist der Mensch nicht ein ,Etwas‘, eine Sache, sondern ein ,Jemand‘ [13]. Dass dies auch Jürgen Habermas in seinen späten Tagen thematisiert, sich nicht scheuend, von der Geschöpflichkeit und der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu sprechen [14], gehört zu den Überraschungen der vergangenen Jahre. Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt erkennt, das eine unsterbliche Seele hat, das als körperliches Wesen Anteil hat an der animalischen Natur und sterblich ist. Als Person ist der Mensch ein einmaliges Subjekt mit Plänen, Anlagen und Initiativen. Er ist auf den anderen angewiesen, existiert mit ihm, teilt Freude und Leid und gestaltet die Welt. Er ist ein geschlechtliches Lebewesen, Mann oder Frau, fähig zur Hingabe seiner selbst in der Liebe. Er ist ein Wesen, das sich täglich neu für bestimmte Handlungen und gegen andere entscheidet, Verantwortung trägt, schuldig werden kann und ein Gewissen hat. Er ist ein Wesen, das Rechenschaft für sein Tun und Lassen ablegen muß und auf Gottes Erbarmen angewiesen bleibt. Er ist Gottes Ebenbild, d.h. nicht nur von Gott geschaffen, sondern sich nach ihm sehnend, auf ihn hin lebend und in ihm seine Vollendung findend, was in Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, der „dem Menschen den Menschen selbst voll kund (macht) und ihm seine höchste Berufung (erschließt)“ [15] deutlich geworden ist. „Das biblische Menschenbild hat es“ – so Johannes Paul II. vor dem Europarat 1988 – „den Europäern gestattet, eine große Vorstellung von der Würde des Menschen als Person zu entwickeln, die einen wesentlichen Wert auch für diejenigen bedeutet, die keinen religiösen Glauben haben“ [16]. Jürgen Habermas hat es mit seiner Rede in der Paulskirche am 14. Oktober 2001 bestätigt. Dieses Menschenbild ist keine Erfindung europäischer Philosophie oder Theologie. Es ist eine anthropologische Wahrheit, die nicht auf einen bestimmten Raum oder eine bestimmte Zeit begrenzt ist. Sie beansprucht universale Geltung. Dieses Menschenbild bleibt das Fundament der europäischen Identität. Von den vielfältigen Konsequenzen für die Bildung, die sich daraus ergeben und die auch Gegenstand der schon erwähnten Schulfächer Geschichte, Religion, Politik und Sprachen sind, sei eine aus aktuellem Anlass besonders hervorgehoben: die Bedeutung der Geschlechtlichkeit. Sie ist von der Natur vorgegeben. Gott hat den Menschen als Mann und Frau erschaffen und einander zugeführt (Gen 2,22). Die Dualität der Geschlechtlichkeit ist wesentlich für das Menschsein und für die Familie. Sie ist kein kulturelles oder soziales Produkt der Interaktion zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft oder gar das Produkt einer reinen Willensentscheidung, wie die Gender-Ideologie mit wachsender Aggressivität und zunehmendem Einfluss auf Gesetzgebung und Rechtsprechung behauptet. Die Manipulation der Natur, die wir seit einer Generation im Hinblick auf die Umwelt beklagen, kennzeichnet in der Gender-Ideologie den Umgang des Menschen mit sich selbst. „Wenn es die natürliche Dualität von Mann und Frau nicht mehr gibt, dann gibt es auch Familie als von der Schöpfung vorgegebene Wirklichkeit nicht mehr. Dann hat aber auch das Kind seinen bisherigen Ort und seine ihm eigene Würde verloren“ [17]. Eine furchtlose Kritik der Gender-Ideologie ist deshalb notwendig. Dazu gehört die Ablehnung jeder Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit Ehe und Familie. Eine solche Ablehnung hat mit Diskriminierung nichts zu tun.

3. Die Liebe zum Alltag

Ein wichtiges Merkmal europäischer Identität ist die positive Einstellung zur Welt. Sie ist die Grundlage der Erforschung der Natur in der Wissenschaft, die Grundlage auch der Technik und der Industrie, des Handels und einer globalen Politik. Diese neugierige, auch an Eroberung interessierte Hinwendung zur Welt begann gewiß schon in der griechischen Antike. Aristoteles ist ebenso ihr Repräsentant wie Alexander der Große. Aber sie erhielt mit dem Christentum eine neue Qualität. Nicht nur der Auftrag des Buches Genesis an den Menschen, sich die Welt, die Gott geschaffen und als gut bezeichnet hatte, untertan zu machen, verpflichtete ihn auf diese Welt, sondern viel mehr noch die Inkarnation selbst. Wenn Gott sich nicht zu schade war, selbst Mensch zu werden und in diese Welt zu kommen, dann kann auch der Christ kein Feld seines alltäglichen Lebens von seiner Verpflichtung zur Nachfolge Christi, seinem Auftrag, sich selbst und die Welt zu heiligen, aussparen. Familie, Haushalt, Arbeit und Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erhalten einen ganz anderen Rang als in der griechischen und römischen Antike. Der Christ lebt seinen Glauben nicht nur im Tempel, im Gottesdienst oder beim Opfer, sondern im alltäglichen Leben in Familie und Beruf. Er hat seine tägliche Arbeit in Gebet zu verwandeln und die Welt zu lieben – nicht jene Welt der Hoffart, des Stolzes, der Begierde und der Prahlerei, vor der Johannes warnt (1 Joh 2,15), sondern die Welt, die zu retten Jesus Mensch wurde und aus der seine Jünger nicht herauszunehmen er seinen Vater bittet (Joh 17,15). Jesu Menschwerdung in Betlehem impliziert den Weltauftrag für jeden Christen. Nicht die Verachtung der Welt, sondern die Heiligung der Welt ist der Auftrag der Christen. Die Flucht aus dem Alltag, der Rückzug in fromme oder bequeme Nischen ist ihm verwehrt. Josemaria Escriva (1902-1975), der Gründer des Opus Dei, den Johannes Paul II. am 6. Oktober 2002 heilig gesprochen hat, hat dies im vergangenen Jahrhundert den Christen deutlich in Erinnerung gerufen.[18]

Auch im Islam scheint es eine Bewegung zu geben, die den Muslimen die Flucht aus dem Alltag und den Rückzug in fromme oder bequeme Nischen verwehrt, die sie vielmehr auffordert, sich gut zu bilden und die Welt zu gestalten: die Bewegung des türkischen Predigers Fethullah Gülen, die schon als islamisches Opus Dei bezeichnet wurde. [19]

Um dem Weltauftrag gerecht zu werden, hat der Christ aber auch sein eigenes Leben zu heiligen, die vita activa mit der vita contemplativa, den Kampf mit der Kontemplation zu verbinden. Dieser Auftrag Christi an seine Jünger unterscheidet den christlichen Glauben von anderen Religionen. Auch wenn er in den 2000 Jahren seit Christi Geburt vielfach vergessen, verdrängt oder auch verfälscht wurde, so hat er doch Europas Identität geprägt und dem christlichen Kulturkreis, der Amerika und Australien einschließt, über alle konfessionellen Spaltungen hinweg einen eigenen Zugang zur Welt und ihrer Gestaltung gegeben. Konsequenzen für die Bildung ergeben sich hier in erster Linie für die Kirchen, für ihre Katechese, ihre Predigt und den Religionsunterricht. Die evangelischen Kirchen tun sich hier vielleicht etwas schwerer als die katholische, weil sie dazu neigen, die aktive Gestaltung der Welt aus dem Glauben schnell unter den Verdacht der Werkgerechtigkeit zu stellen.

4. Die Menschenrechte

Die Menschenrechte sind gewiß eine späte Entwicklung in der europäischen Kultur. Erst am Ende des 18. Jahrhunderts werden sie erstmals formuliert – zuerst in den Vereinigten Staaten, die vom europäischen Kulturkreis nicht zu trennen sind, dann in Frankreich. Da sie während der Französischen Revolution und in den laizistischen Traditionen des 19. Jahrhunderts in Europa oft als Waffe gegen die Kirche benutzt wurden, gestaltete sich das Verhältnis der Kirche zu den Menschenrechten über eineinhalb Jahrhunderte hinweg als schwierig und konfliktreich. Die menschliche Freiheit wurde als Befreiung von Gott mißverstanden. Diese Spannung löste sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Dennoch wage ich zu sagen: Das Christentum hat den Menschenrechten den Boden bereitet.

Christliches Erbe in den Menschenrechten sind die Leitgedanken von der Einheit des Menschengeschlechtes und von der Gleichheit seiner Glieder, von der Einmaligkeit und Würde eines jeden Menschen als Person, unverfügbar den anderen und sich selbst, berufen zu Eigenverantwortung, zu Nächstenliebe und zur Bewährung in dieser Welt. Nur im christlichen Kulturkreis … konnten die Menschenrechte sich entwickeln. [20] Die europäische Moderne, die der Welt das demokratische Ideal und die Menschenrechte gegeben hat, schöpft die eigenen Werte aus seinem christlichen Erbe. [21]

Der Mensch hat diese Rechte, weil er Mensch ist, also von Natur aus. Der Staat ist zwar für ihre Durchsetzung von Bedeutung, aber er schafft sie nicht. Sie haben eine naturrechtliche Wurzel. Menschenrechte sind Naturrechte, Universalrechte, unantastbare Rechte: Niemand, nicht der einzelne, nicht die Gruppe, nicht die Autorität und nicht der Staat kann sie verändern oder aufheben, weil sie von Gott selbst kommen. [22] In geradezu klassischer Weise bringt dies das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 1 zum Ausdruck:

Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Papst Benedikt XVI. hat das Grundgesetz und sein naturrechtliches Fundament während seiner Deutschland-Reise 2011 mehrfach in Erinnerung gerufen: in seiner Rede im Bundestag und in seiner Begegnung mit Vertretern der Muslime:

Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnis der Vernunft bildet unser kulturelles Gedächtnis. … Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. [23]

Welche Konsequenzen für die Bildung sind aus dieser Dimension europäischer Identität zu ziehen? Nur eine sei hervorgehoben: Auch Ungeborene haben ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Es gibt kein Recht auf Abtreibung [24]. Das Lebensrecht Ungeborener ist zur Zeit das am meisten missachtete Menschenrecht. Die 5.457.850 Abtreibungen allein in Deutschland, die das Statistische Bundesamt zwischen 1972 und dem 30. September 2012 registriert hat, schreien zum Himmel. Dabei erfasst die offizielle Statistik nur etwa die Hälfte der Abtreibungen [25]. Wie die Gesetzgebung so darf auch die Bildungsarbeit diese Form der Kindesmisshandlung nicht länger tabuisieren.

5. Freiheitlicher Verfassungsstaat und Zivilgesellschaft

Zur Identität Europas gehört der freiheitliche Verfassungsstaat, dessen Zweck die Herrschaft des Rechts, die Gewährleistung der Menschenrechte und damit die Sicherung der Freiheit der Bürger ist. Der freiheitliche Verfassungsstaat ermöglicht die Beteiligung der Bürger an der politischen Willensbildung. Er ist das Fundament der Demokratie. Er verlangt die Teilung der politischen Gewalten. Er hat seine Wurzeln in der athenischen Polis, in den Nomoi Platons und der Politik sowie der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, aber auch in der römischen Res publica und in Ciceros De officiis. Im freiheitlichen Verfassungsstaat zeigt sich aber auch das Erbe des Christentums. Die gleichberechtigte Teilnahme aller Bürger am politischen Willensbildungsprozess, die die athenische Polis und die römische Res publica nicht kannten, ist eine logische Konsequenz des christlichen Menschenbildes. Es betonte die Gleichheit der Würde aller Menschen und führte, wenn auch nach langen Kämpfen, zur Abschaffung der Sklaverei. Zu diesem Menschenbild gehört aber auch die Ambivalenz der menschlichen Natur. Der Mensch kann gut oder böse, konstruktiv oder destruktiv handeln. Er kann die politische Macht zur Förderung des Gemeinwohls, aber auch zu seiner Zerstörung gebrauchen. Daraus zieht der freiheitliche Verfassungsstaat die Konsequenz, die politische Macht auf die Legislative, die Exekutive und die Judikative zu verteilen, um so eine Balance und eine gegenseitige Kontrolle zu erreichen. Gewaltenteilung heißt Machtbegrenzung. Ein erster Schritt zur Machtbegrenzung war bereits die Unterscheidung zwischen Spiritualia und Temporalia. Aber die Gewaltenteilung geht darüber hinaus. Sie bändigt mit der Trennung und gegenseitigen Kontrolle legislativer, exekutiver und judikativer Macht die Temporalia selbst. Sie will die Versuchung zum Machtmißbrauch minimieren und da, wo Macht dennoch mißbraucht wird, die schädlichen Folgen begrenzen.

Der freiheitliche Verfassungsstaat bedarf zu seiner Entfaltung und Stabilität einer aktiven Gesellschaft, die Zivil- oder Bürgergesellschaft zu nennen man sich heute angewöhnt hat. Eine Zivilgesellschaft ist eine Gesellschaft freier, selbstbewußter und aktiver Bürger, die sich in einer relativ staatsfreien Sphäre der Wirtschaft, der Politik und der Kultur in Verbänden und Parteien selbst organisieren, am politischen Willensbildungsprozess im vorparlamentarischen Raum einer pluralistischen Gesellschaft teilnehmen, Kongresse wie den christlicher Führungskräfte veranstalten, und den Staat nicht nur tolerieren, sondern als zentrale Bedingung des Gemeinwohls auch stützen. Zu ihr gehören freie Medien. Die Zivilgesellschaft ist das notwendige Gegenüber des freiheitlichen Verfassungsstaates. Sie liegt in der Logik des personalen Menschenbildes.

Wie sehr der freiheitliche Verfassungsstaat und die Zivilgesellschaft zur Identität Europas gehören, hat die Wende von 1989/90 gezeigt. So gut wie alle postkommunistischen Länder haben ihre Transformationsprozesse an ihnen orientiert. Vom Aufbau der Zivilgesellschaft hängt die Stabilität des freiheitlichen Verfassungsstaates ab und von der Stabilität des freiheitlichen Verfassungsstaates das Gelingen der Transformationsprozesse.[26]

Zu den Konsequenzen, die sich aus dieser Dimension europäischer Identität für die Bildung ergeben, gehört neben einem soliden Politik- oder Staatsbürgerunterricht auch die Förderung der Bereitschaft und der Fähigkeit, sich in Parteien und Verbänden zu engagieren und in der öffentlichen Kommunikation den Grundsatz zu beachten Altera pars auditur.

6. Sozialer Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft

Daß der Staat nicht nur Rechtsstaat, sondern auch Sozialstaat sein muß, auch das gehört zu dem, was Europas Identität ausmacht. Immer wieder gibt es die Versuchung, den Staat auf die Rolle des Nachtwächters zu reduzieren, der zwar für die Durchsetzung des Rechts und der Verträge nach innen und der Organisation der Verteidigung nach außen sorgt, sich aber um die Wohlfahrt seiner Bürger nicht kümmert. Letztere gilt als deren eigene, private Angelegenheit. Eine Spaltung der Gesellschaft wäre die logische Folge dieser Perspektive. Der soziale Rechtsstaat sorgt dagegen nicht nur für Recht und Sicherheit, sondern auch für menschenwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Er schützt die Bürger gegen Einkommensrisiken, die aus Krankheit, Invalidität, Alter und Arbeitslosigkeit erwachsen. Er gewährleistet mit der sozialen Sicherheit soziale Gerechtigkeit, gesellschaftliche Integration und individuelle Freiheit. Diese Aufgabe des Gemeinwesens ist ein christliches Erbe. Schon im Mittelalter galt die Sorge für die Armen, die Witwen und die Waisen als Aufgabe des christlichen Gemeinwesens, derer sich die Klöster, die Orden, die Spitäler und Hospize annahmen. Sie setzt die Fähigkeit zum Mitleiden mit dem in Not geratenen Mitmenschen voraus …

Zu dem, was europäische Identität ausmacht, gehört mit dem sozialen Rechtsstaat auch eine bestimmte Sicht der Wirtschaft, die die Freiheit des Wettbewerbes mit sozialem Ausgleich verbindet, die den Staat verpflichtet, durch das Arbeits- und Betriebsverfassungsrecht für humane Arbeitsbedingungen und durch eine gute Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Steuerpolitik für eine möglichst geringe Arbeitslosigkeit zu sorgen. Wir nennen diese Konzeption von Wirtschaft „soziale Marktwirtschaft“. Sie verbindet die Vorteile des Marktes, auch eines globalen Marktes, nämlich einen die Preise senkenden oder die Produkte und Dienstleistungen verbessernden Wettbewerb, mit einem hohen Beschäftigungsniveau und mit sozialer Sicherheit für jene, die sich am Leistungswettbewerb nicht beteiligen können.

Zu den Konsequenzen für die Bildung, die sich aus dieser Dimension europäischer Identität ergeben, gehört erneut die Forderung nach einem soliden Politikunterricht, der ein Verständnis für die sozialen Probleme und die Notwendigkeit eines sozialstaatlichen Leistungssystems ebenso einschließt wie ein Verständnis für die Bedingungen und den Nutzen der Marktwirtschaft.

7. Internationale Kooperation

Eine siebte Dimension europäischer Identität ist die internationale Kooperation. Wie kein anderer Kontinent hat Europa im 20. Jahrhundert internationale Kooperations- und Integrationsstrukturen entwickelt. Skeptiker mögen dem entgegenhalten, dass auch von keinem anderen Kontinent derartige nationalistische Abgrenzungen und Kriege ausgingen wie von Europa. Dies gehört in der Tat zu den Schattenseiten dessen, was Europa ausmacht, und mehrere Kriege in den postkommunistischen Ländern nach der Wende von 1989/90 zeigten, dass nationalistische Exzesse und ethnische Säuberungen nicht nur dunkle Geschichte, sondern schmerzhafte Gegenwart sind. Als Kontinent der Verwüstungen bezeichnete Johannes Paul II. das Europa an der Schwelle zwischen den beiden Jahrtausenden.[27]

Aber zu dem, was Europa ausmacht, gehört auch das kontinuierliche und erfolgreiche Bemühen um Versöhnung, um Kooperation, um völkerrechtliche Strukturen und um Integration. „Wenn man ‚Europa‘ sagt, soll das ‚Öffnung‘ heißen“, schreibt Johannes Paul II. in Ecclesia in Europa. „Europa habe sich dadurch aufgebaut, dass es über die Meere hinweg auf andere Völker, andere Kulturen, andere Zivilisationen zugegangen ist.“[28] Dies geht weit über die Europäische Union hinaus. Am 5. Mai 1949 wurde in London der Europarat gegründet, um den Frieden in Europa auf der Grundlage der Demokratie, der Menschenrechte, der Gerechtigkeit und der internationalen Kooperation zu festigen. Die zehn Gründungsmitglieder, so heißt es in der Präambel der Satzung, sind unerschütterlich mit den geistigen und sittlichen Werten verbunden, die das gemeinsame Erbe der Völker sind und der persönlichen und politischen Freiheit, der Herrschaft des Rechts sowie der wahren Demokratie zugrunde liegen. Heute gehören dem Europarat 47 Mitglieder an. Sie wollen – auch mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofes – die Menschenrechte verteidigen. Sie wollen die pluralistische Demokratie gewährleisten, die kulturelle Identität Europas bewußt machen, gemeinsame Lösungen für soziale Probleme suchen und die postkommunistischen Demokratien Mittel- und Osteuropas in ihren Transformationsprozessen unterstützen. Sie wollen die Religion als Partner der Demokratie. Den Verzicht auf die Invocatio Dei in dem 2004 verabschiedeten Verfassungsvertrag für die EU hat die katholische Kirche wiederholt beklagt.

Zu den vom europäischen Kulturkreis ausgehenden internationalen Kooperationsstrukturen, die Frieden und Freiheit sichern wollen, gehören auch die 1945 gegründeten Vereinten Nationen mit ihren zahlreichen Unterorganisationen wie z. B. der UNESCO, dem Flüchtlingshilfswerk und der schon 1919 gegründeten Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und nicht zuletzt das Nordatlantische Verteidigungsbündnis, das 1949 als Wertegemeinschaft gegründet worden ist, um den Frieden auf der Basis der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts zu verteidigen – so die Präambel des Vertrages. Die NATO ist das Bündnis, das Europa mit den Vereinigten Staaten verbindet. Im Krieg auf dem Balkan mußte Europa erfahren, dass es ohne die Vereinigten Staaten nicht in der Lage gewesen wäre, der Gewalt eines Diktators entgegenzutreten. Schon im Kampf gegen Hitler wäre Europa ohne die USA wohl verloren gewesen. Amerika hat im 20. Jahrhundert Europa mehrfach geholfen, Europa zu bleiben[29]. Eine besondere Erfolgsgeschichte hat die Europäische Union. Sie gilt trotz der gegenwärtigen Krise um die WährungsuniongeradezualsInbegriff europäischer Kooperations- und Integrationsstrukturen. An ihrer Wiege stehen drei Männer – Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide de Gasperi – deren christliche Motivation für den Neuanfang in Europa nach dem 2. Weltkrieg bekannt ist.

Die katholische Kirche hat die Bildung und Entwicklung der internationalen Organisationen – auch der EU – immer unterstützt. Dies zeigen die zahlreichen Besuche Papst Pauls VI. (1965), Papst Johannes Pauls II. (1979 und 1995) und Papst Benedikts XVI. (2008) bei der UNO und verschiedenen ihrer Unterorganisationen sowie beim Europarat und im Europäischen Parlament (1988), die Mitarbeit des Heiligen Stuhls in verschiedenen dieser Organisationen als Ständiger Beobachter und zahlreiche Würdigungen der grundlegenden Dokumente dieser Organisationen wie z. B. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948, der KSZE-Charta für ein neues Europa und der Verträge der Europäischen Union seit ihrer Gründung 1957. Die Kirche arbeitet für die Einheit der Menschen und der Völker. Sie versteht sich, so hat es das II. Vatikanische Konzil erklärt, als Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit[30]. Johannes Paul II. war in seinem 26jährigen Pontifikat ein, ja der Repräsentant dieser doppelten Einheit der Menschen mit Gott und untereinander. Er war die Inkarnation der europäischen Identität.

Zu den Konsequenzen für die Bildung, die sich aus dieser Dimension der europäischen Identität ergeben, gehört neben der schon erwähnten soliden Gymnasialbildung die Bereitschaft, offen zu bleiben für andere Länder und Völker, Sprachen zu lernen und den internationalen Austausch schon während der Schulzeit und des Studiums zu fördern.

Habt keine Angst!

Die verschiedenen Dimensionen der europäischen Identität zeigen, daß Europa christliche Wurzeln hat. Die Identifizierung Europas ist keine Frage der Geographie. Auch die Frage nach der optimalen Erweiterung der Europäischen Union ist nicht vorrangig eine geographische Frage. Gewiß liegen Europas Grenzen dort, wo seine Handlungsfähigkeit endet. Europa dürfte überfordert sein, sollte es die Türkei oder Russland integrieren wollen. Wenn die Politik eines Landes aber an den skizzierten Dimensionen europäischer Identität ausgerichtet ist, wenn sie die Würde der Person schützt und die Menschenrechte, also auch die Religionsfreiheit respektiert, sich der Herrschaft des Rechts unterwirft, Gerechtigkeit, Frieden und soziale Sicherheit anstrebt, alle Bürger an der politischen Willensbildung beteiligt, unternehmerischer Initiative Raum gibt und Markt und Wettbewerb sichert, dann ist dieses Land ein Partner Europas. Europa muß offen sein für politische, ökonomische und kulturelle Beziehungen zu solchen Ländern. Insoweit versteht es sich von selbst, dass Europa offen sein muß nach Osten, daß es auch jenen postkommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas mit der Bereitschaft zur Kooperation und zur Integration begegnet, die noch nicht Mitglieder der EU sind. Zwischen Kooperation und Integration ist freilich zu unterscheiden. Eine Integration setzt nicht nur die Respektierung der skizzierten Kriterien, sondern auch die Erfahrung einer gemeinsamen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen voraus. Das Erbe einer gemeinsamen Geschichte, gemeinsam erlebter Erfolge und auch Katastrophen, ist Teil der europäischen Identität – auch wenn die Erinnerung an diese Geschichte sehr verschieden sein kann und in den westeuropäischen Ländern der Europäischen Union eine andere ist als in ihren neuen Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa, die nach der Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft 1945 noch eine 45jährige kommunistische Unterdrückung zu erleiden hatten. Europa bedarf keiner Feindbilder, um sich zu definieren und seine Integrationskräfte zu mobilisieren. Es bedarf nur der Besinnung auf seine Wurzeln und des Schutzes seiner Quelle. Wer die Quelle, von der er sich entfernt hat, wieder erreichen will, muß gegen den Strom schwimmen. Das integrierte Europa von morgen, so Johannes Paul II. vor dem europäischen Parlament 1988, soll offen zum Osten des Kontinents hin, großzügig gegenüber der anderen Hemisphäre durch die Versöhnung des Menschen mit der Schöpfung, mit seinesgleichen und mit sich selbst wieder die Funktion eines Leuchtturmes in der Weltzivilisation einnehmen[31].

Wenige Jahre nach dieser Ansprache hat Europa die Chance erhalten, diese Vision zu realisieren. Wir sind bei dieser Realisierung schon ein gutes Stück vorangekommen. Aber in manchen Ländern nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Europas ist der christliche Glaube in den vergangenen Jahrzehnten sehr an den Rand gedrängt worden. Glaube und Kultur, Glaube und Leben klaffen weit auseinander[32]. Es ist die Aufgabe der Christen, die eigenen Wurzeln neu zu entdecken und eine Zivilisation der Liebe zu entwickeln, die zugleich christlicher und menschlich reicher ist. Das Kreuz ist das Logo dieser Zivilisation. Die Erneuerung Europas muß ihren Ausgangspunkt nehmen vom Dialog mit dem Evangelium, erklärte die Sonder-Synode der Bischöfe für Europa 1991. Für die Neuevangelisierung Europas genügt es deshalb nicht, sich um die Verbreitung der ‚Werte des Evangeliums‘ wie Gerechtigkeit und Frieden zu bemühen. Wir kommen nur dann zu einer wirklich christlichen Evangelisierung, wenn die Person Jesu Christi verkündet wird.[33] Daß dies nicht einfach ist, hat schon der Apostel Paulus auf dem Areopag in Athen und auch in Korinth erfahren. Daß es dennoch gelingen kann, zeigen die Begegnungen Johannes Pauls II. mit Jugendlichen aus aller Welt bei den Weltjugendtreffen, zum Beispiel 2000 in Rom und 2002 in Toronto und Benedikts XVI. 2005 in Köln, 2008 in Sidney und 2011 in Madrid, ebenso die Europäischen Jugendtreffen der ökumenischen Gemeinschaft von Taizé. Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus![34] Mit diesem Wort begann Johannes Paul II. am 22. Oktober 1978 sein Pontifikat, mit dem die Spaltung Europas überwunden wurde. Habt keine Angst! Dieses Wort gilt auch uns im 21. Jahrhundert.

Fußnoten

[1] Romano Guardini: „Europa – Wirklichkeit und Aufgabe”, in: ders., Sorge um den Menschen, Bd. 1, Mainz/ Paderborn 1988, S. 252f.

[2] Hans Maier: „Europäische Kultur: Phantom oder Wirklichkeit?”, in: Ost – West. Europäische Perspektiven, 2. Jg. (2001), S. 245.

[3] Johannes Paul II.: „Ansprache an die Parlamentarische Versammlung des Europarates in Straßburg am 8. Oktober 1988”, in: Der Apostolische Stuhl 1988, S. 824. Ähnlich die Erklärung der Sonder-Bischofssynode für Europa „Seien wir Zeugen Christi, der uns befreit hat” vom 13. Dezember 1991, in: Der Apostolische Stuhl 1991, S. 1570f. Vgl. auch Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden, Augsburg 2005, S. 120f.

[4] Josef Thesing und Rudolf Uertz (Hrsg.): Die Grundlagen der Sozialdoktrin der Russisch-Orthodoxen Kirche, St. Augustin 2001, III.3.

[5] Ulrich Matz: „Zum Einfluss des Christentums auf das politische Denken der Neuzeit“, in: Günther Rüther (Hrsg.), Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegung in Deutschland, Bonn 1984, S. 33.

[6] Dazu zählen z. B. der Religionsunterricht in der Schule, die Ausbildung der Religionslehrer, die Errichtung theologischer Fakultäten, die Militär- und Anstaltsseelsorge.

[7] Leonardo Boff: Aus dem Tal der Tränen ins Gelobte Land. Der Weg der Kirche mit den Unterdrückten, Düsseldorf 1982, S. 182. Kritisch dazu das Dokument der Internationalen Theologenkommission zur Theologie der Befreiung „Zum Verhältnis zwischen menschlichem Wohl und christlichem Heil“, in: Karl Lehmann u. a.: Theologie der Befreiung. Einsiedeln 1977, S. 179; Manfred Spieker: „Politik und Ökonomie in der Theologie der Befreiung“, in: Rupert Hofmann (Hrsg.), Gottesreich und Revolution, Münster 1987, S. 93ff.

[8] Erklärung der Sonder-Bischofssynode für Europa „Seien wir Zeugen Christi, der uns befreit hat” vom 13. Dezember 1991, in: Der Apostolische Stuhl 1991, S. 1583. Vgl. auch Wolfgang Huber: „Europa als Wertegemeinschaft“, in: Die Politische Meinung. Nr. 386 (Januar 2002), S. 64.

[9] Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben Ecclesia in Europa vom 28.6.2003, S. 109.

[10] Johannes Paul II.: Ansprache an die Parlamentarische Versammlung des Europarates am 8. Oktober 1988, a.a.O., S. 824.

[11] Samuel Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/ Wien 1996, S. 100.

[12] BVerfGE 88, 251

[13] Robert Spaemann: Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ‚etwasʻ und ‚jemandʻ, Stuttgart 1996.

[14] Jürgen Habermas: Glauben und Wissen. Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Börsenvereins des deutschen Buchhandels 2001, in: FAZ vom 15.10.2001.

[15] II. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 22.; Johannes Paul II., Redemptor Hominis (1979) 14. Vgl. auch M. Spieker: „Das Menschenbild der katholischen Soziallehre. Dimensionen personaler Existenz und ihre sozialethischen Konsequenzen“, in: Enrique H. Prat, Hrsg., Ökonomie, Ethik und Menschenbild, Wien 1993, S. 52ff.

[16] Johannes Paul II., Ansprache vom 8.10.1988, a.a.O., S. 825. Vgl. auch ders., Ecclesia in Europa, 109.

[17] So Benedikt XVI. in seiner Weihnachtsansprache an die römische Kurie am 21.12.2012, in: Osservatore Romano (deutsch) vom 4.1.2013, S. 7.

[18] Josemaria Escriva: „Die Welt leidenschaftlich lieben. Homilie auf dem Campus der Universität von Navarra am 8.10.1967“, in: Gespräche mit Msgr. Escrivá de Balaguer, 4. Aufl. Köln 1969, S. 173ff. Vgl. auch Joachim Kardinal Meisner: „Das Charisma des Opus Dei in der Kirche auf dem Hintergrund des Mysteriums der Menschwerdung“, in: Cesar Ortiz, Hrsg., Josemaria Escriva. Profile einer Gründergestalt, Köln 2002, S. 27ff; Martin Rhonheimer: Der selige Josemaria und die Liebe zur Welt, ebd., S. 225ff.

[19] Uta Rasche: “Muslime mit calvinistischem Ehrgeiz“, in: FAZ vom 24.3.2010. Vgl. auch Rainer Hermann: „Tue Gutes, und lasse es wirken“, in: FAZ vom 10.11.2012 sowie „Islam und Moderne stehen nicht im Widerspruch“, Interview mit Fethullah Gülen, in: FAZ vom 6.12.2012. Tobias Specker, „Baut Schule anstelle von Moscheen“. Einige Grundgedanken und Aktivitäten der Gülen-Bewegung, in: Cibedo-Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen, Heft 3/2009, S. 96ff.; Martin Spiewak: „Die Streber Allahs“, in: Die Zeit vom 18.2.2010.

[20] Josef Isensee: „Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung“, in: Ders./Paul Kirchhof, Hrsg., Handbuch des Staatsrechts, Bd. V. Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg 1992, S. 374.

[21] Johannes Paul II.: Ecclesia in Europa 108.

[22] Johannes Paul II.: Apostolisches Schreiben über die Berufung und Sendung der Laien in Kirche und Welt Christifideles Laici (1988) 38.

[23] Benedikt XVI.: Rede im Deutschen Bundestag am 22.9.2011, in: VAS 189, S. 38.

[24] Bernward Büchner u.a. (Hrsg.): Abtreibung – ein neues Menschenrecht?, Krefeld 2012.

[25] Manfred Spieker: Der verleugnete Rechtsstaat, 2. Aufl. Paderborn 2011, S. 17ff.

[26] Vgl. M. Spieker (Hrsg.): Katholische Kirche und Zivilgesellschaft in Osteuropa. Postkommunistische Transformationsprozesse in Polen, Tschechien, der Slowakei und Litauen, Paderborn 2003.

[27] Johannes Paul II.: Erinnerung und Identität, a.a.O., S. 152.
[28] Johannes Paul II.: Ecclesia in Europa 111; ders., Erinnerung und Identität, a.a.O., S. 135.

[29]Vgl. Ludger Kühnhardt, Europa auf der Suche nach einer neuen geistigen Gestalt. Zentrum für Europäische Integrationsforschung Discussion Paper C 41, Bonn 1999, S. 24.

[30] II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium 1. Vgl. auch Carl J. Marucci, Hrsg., Serving the human family. The Holy See at the Major United Nations Conferences, New York 1997.

[31]Johannes Paul II.: „Ansprache an das Europäische Parlament in Straßburg am 11. Oktober 1988“, in: Der Apostolische Stuhl 1988, S. 877f.

[32] M. Spieker: „Gespaltenes Missionsland. Zur Lage des christlichen Glaubens im wiedervereinigten Deutschland“, in: Bernhard Vogel, Hrsg., Religion und Politik. Ergebnisse und Analysen einer Umfrage, Freiburg 2003, S. 92-126.

[33] Erklärung der Sonder-Bischofssynode für Europa vom 13. Dezember 1991, a.a.O., S. 1572f.

[34] Osservatore Romano (deutsch) vom 27.10.1978, S. 1f.

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