Theologie

Christliches Verständnis von Freiheit und die neurowissenschaftliche Infragestellung der Freiheit

Prof. Dr. Ulrich Eibach · 
22.01.2015

Die griechisch-abendländische Tradition ist geprägt von der Vorstellung, dass materielles Sein im geistigen Sein gründet und durch es gelenkt wird. Diese dualistische Sicht wurde letztlich erst durch den Materialismus des 19. Jahrhunderts in Frage gestellt. Danach kommt der materiellen Wirklichkeit immer der seinsmäßige Primat vor dem seelisch-geistigen Sein zu. Alle geistig kulturellen Phänomene seien lediglich Begleiterscheinungen materieller Prozesse, seien ganz deren Gesetzmäßigkeiten unterworfen und daher ihnen gegenüber letztlich ohnmächtig. Die Welt sei ein geschlossener Kausalzusammenhang, in den es keine Eingriffsmöglichkeiten von „Geistern“ gibt, die diesem nicht unterworfen sind.

Der Philosoph P. Bieri hat das Problem, dass sich daraus für die Freiheit des Menschen ergibt, als Gehirn-Geist-Problem beschrieben und dieses in die Gestalt eines Trilemmas gebracht, indem er drei Behauptungen nebeneinanderstellt: (1) Mentale Phänomene sind nicht-physische Phänomene. (2) Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.(3) Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen. Bieri legt dar, dass jede dieser Thesen für sich genommen durch die Alltagserfahrung und das wissenschaftliches Denken gut gestützt ist, dass aber immer nur zwei dieser Thesen zugleich richtig sein können.

Für den christlichen Glauben ist es selbstverständlich, dass er die 1.These wenigstens in der Form vertreten muss, dass geistige Phänomene nicht in den Gesetzmäßigkeiten, die für physische Phänomene gelten, aufgehen, und dass er die 3. These ablehnen muss, wenn er Gott und ein Wirken und Handeln Gottes in dieser Welt denken will und an der Geltung der 2.These festhalten will. Diese These bedarf jedoch einer näheren theologisch-anthropologischen Erörterung. Vertritt man die 1.These und lehnt die 3. These ab, so führt das zu einem ontologischen Dualismus von Geist und Materie, ohne den letztlich aber eine Unterscheidung von Gott und Welt und ein Handeln und Wirken Gottes in dieser Welt theologisch nicht aussagbar ist. Aus theologischer Sicht geht es nicht nur um die Freiheit des Menschen, sondern in erster Linie um das Verhältnis Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott und damit um die Frage, wie Gottes Geist am und im Menschen wirken kann.

Um die Relevanz des durch neurophysiologische Erkenntnisse ausgelösten Streits um Willensfreiheit für die Theologie zu erkennen, ist zunächst eine theologische Erörterung des Freiheitsbegriffs vorzulegen und erst daraufhin zu fragen, inwieweit dieser durch neurobiologische Erkenntnisse in Frage gestellt wird.

1. Freiheit und Unfreiheit des Menschen aus theologischer Sicht

Die Theologie hat immer eine große Zurückhaltung gegenüber einer dem Menschen eigenen Willensfreiheit geübt. Menschliche Freiheit ist in zweifacher Hinsicht begrenzte Freiheit, begrenzt durch die Bedingungen des Geschöpfseins und das stetige Angewiesensein auf die schöpferische Zuwendung Gottes und zugleich begrenzt durch das Angewiesensein auf die Mitmenschen und die Mitwelt. Freiheit im Sinne von Autonomie, einer nur sich selbst Grenzen setzenden Freiheit, hat nur Gott. Aber auch Gottes Freiheit ist keine Willkürfreiheit, denn Gott hat sich in seiner Freiheit selbst an seine Schöpfung, insbesondere den Menschen, gebunden und damit begrenzt, und zwar aus Liebe, in der er sich in ewiger Treue an sein Geschöpf bindet. Der Mensch soll dieser Freiheit Gottes auf der geschöpflichen Ebene entsprechen, indem auch er seine Freiheit zum Dienst am Nächsten und in Verantwortung für die Schöpfung gebraucht. Seiner Freiheit sind jedoch durch seine Leiblichkeit enge Grenzen gesetzt, die durch körperliche und seelische Krankheiten noch weiter eingeengt werden können.

Wenn der Mensch diese Grenzen missachtet, gefährdet oder zerstört er das Leben. Leben kann nur gelingen in Grenzen setzenden und darin heilsamen Lebensordnungen. Achtet der Menschen diese Grenzen seiner Freiheit nicht, dann verfällt er dem Hochmut, will autonom, sein eigener Gott und Schöpfer sein. Die theologische Tradition hat darin im Anschluss an die „Sündenfallgeschichte“ (1.Mose 3) die tiefste Wurzel der Sünde gesehen. Sünde ist in ihrem Kern „Nicht-wollen, dass Gott Gott ist“ (M. Luther), das Wollen, dass der Mensch sein eigener Herr und Gott ist. Der Mensch, der sich aus der Abhängigkeit von Gott lossagt, macht sich zum Maß aller Dinge und verfällt in seinem Hochmut der Selbstsucht und wird gerade darin unfrei, hält diese „Gefangenschaft“ in sich selbst aber für Freiheit im Sinne von „Autonomie“. Er wird damit unfähig, seinem eigenen selbstsüchtigen Wollen zu widerstehen und das erkannte Gute zu tun. Der Apostel Paulus hat diese Ohnmacht des unter die Herrschaft der Sünde geratenen Willens eindrücklich beschrieben: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“(Römer 7,18f.). Er nähert sich damit der Erkenntnis, dass der Wille in sich zerrissen und deshalb unfähig ist, sein Wollen Tat werden zu lassen, und zwar, weil der Wille nicht nur das von Gott gebotene Gute, sondern immer auch – unbewusst oder bewusst – oft in erster Linie sich selbst will.

Der Kirchenvater Augustinus hat diese Sicht näher bedacht. Für ihn ist der Mensch in seinem Streben auf das höchste Gut, auf Gott ausgerichtet. Wenn er sich von Gott abwendet, dann setzt er sich selbst als höchstes Gut und Endzweck aller Dinge ein, verfällt der Selbstsucht und mit ihr der Sucht nach irdischen Dingen, ohne dass er dadurch eine Erfüllung seines tiefsten inneren und guten Begehrens findet. Indem der Wille das eigene Ich als höchstes Gut setzt, verschmilzt er mit den sinnlichen Neigungen zu einer unlöslichen Einheit, der Konkupiszenz (Begierde), so dass – mit S. Freuds gesprochen – das „Ich“ den Willen des „Es“, der Triebe, bejaht und in Handlungen umsetzt. Im Kern der unwillentlichen Konkupiszenz herrscht also das Willentliche des freien Geistes, der sich von Gott abgewendet hat und so der Begierde verfällt und seine Freiheit verliert, so dass die Konkupiszenz die Ausrichtung des Willens bestimmt, mithin die Vorstellung von der Freiheit des Willens letztlich eine Illusion ist.

Luther konnte Augustins Verständnis von Konkupiszenz aufnehmen und mit ihm die mit dem Begriff „Willen“ üblicherweise verbundene Vorstellung von Wahlfreiheit (liberum arbitrium) entschieden zurückweisen. Der Wille ist für ihn nicht eine zwischen „Fleisch“ (Ichsucht) und „Geist“ stehende freie Entscheidungssphäre. Vielmehr findet sich die ganze Existenzweise immer schon, vorgängig zu aller Willensentscheidung, bestimmt und bewegt durch die Ichsucht oder den „Geist Gottes“ vor, ohne dass das einem Zwang gleichkäme. Diese beiden Mächte rufen, indem sie jeweils vom Menschen in seinem Inneren Besitz ergreifen, eine Zustimmung des Willens zur Richtung der von ihnen gesetzten Bewegung hervor. Die Wurzel von Sünde und Unfreiheit ist daher nicht in der Sinnlichkeit, sondern im Innersten des Menschen selbst zu finden, der ohne Gott aus sich selbst und durch sich selbst leben will. Entscheidend ist also, dass die Konkupiszenz und mit ihr der unfreie Wille nicht eine Naturanlage, nicht ein physisches oder psychisches „Etwas“ ist, sondern ein verkehrtes seelisch-geistiges Streben, ein verkehrter Wille, für dessen Verkehrung letztlich keine physischen, psychischen und sozialen Umstände außerhalb des Willens angegeben werden können. Auch wenn dem Sündersein eine die ganze Menschheit beherrschende Macht zugrunde liegt, ist die Sünde doch immer zugleich im strikten Sinne die eigene Sünde, die der Mensch nicht auf nicht verantwortungsfähige anonyme physische, psychische und soziale Größen abschieben kann. Mit den Mitteln empirischer Forschung kann diese allem Wollen und Handeln des Menschen zugrundeliegende geistige Dimension des Willens freilich nicht aufgezeigt werden, sie ist in ihnen verborgen, ist ihnen „transzendent“. Empirisch aufweisbar ist – wie Augustin darlegt – nur die Unfreiheit des Willens in der Gestalt der Konkupiszenz als Verfallen des Menschen an die Sucht nach irdischen Dingen, wie sie sich dem empirischen Auge am deutlichsten in den Süchten zeigt.

Augustinus und Luther binden die Verantwortung des Menschen vor Gott mit Paulus (2.Kor 5,10; Röm 2,15f) nicht daran, dass der Mensch ein uneingeschränkt freier, durch nichts als seinen freien Willen bedingter Urheber seiner Taten ist, sondern nur daran, dass sein durch viele physische, psychische, soziale und andere Faktoren mitbedingtes Handeln von ihm zutiefst auch gewollt wird, dass er auch seinen Neigungen zustimmt, sie so auch will, aber nicht wollen muss und sie eben deshalb durch seinen Willen über bloße natürliche Neigungen und Triebe heraushebt, sie gut oder böse werden lässt. Der Mensch ist also nie nur Opfer, sondern immer auch Täter seiner Taten und bleibt insofern auch für seine guten und bösen Taten ver- antwortlich. Dass der Mensch nicht „müssen muss“, sagt ihm sein Gewissen, das ihn für seine bösen Taten anklagt und eben deshalb auch sagt, dass trotz allem Unwillentlichen im Kern des Unwillentlichen doch etwas Willentliches herrscht, das den Menschen auch vor Gott verantwortlich sein lässt.

Der Konkupiszenz gegenüber steht bei Paulus (Röm 8,1-17; Gal 4,5f; 5,1), Augustin und Luther nicht ein neutrales und freies geistiges Prinzip im Menschen, sondern allein der befreiende Geist Gottes. Ziel von Gottes Handeln ist es, den Menschen aus dieser selbst gewählten Unfreiheit zu befreien und zur Erkenntnis zu führen, dass er nur frei ist in der Bindung an Gott. Luther hat dieses Freiheitsverständnis eindrücklich in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ dargelegt. Sie gipfelt in der Aussage: „Das ist die christliche Freiheit: der Glaube allein.“ Der Mensch verdankt seine Freiheit der Befreiung aus der Sünde, der Gefangenschaft in sich selbst zur Bindung an Gott im Glauben. Deshalb kann Luther seine Schrift mit der Aussage abschließen: „Aus dem allen folgt der Schluss, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten: in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe… Sieh, das ist die rechte, geistliche, christliche Freiheit.“ Sie hat nichts gemein mit Autonomie, in der der Mensch in seinem Wollen und Handeln durch nichts als sich selbst bedingt aus sich selbst, durch sich selbst lebt und nur sein eigener Gesetzgeber ist. Sie ist Befreiung zu Beziehungen, in denen Freiheit gewährt wird, Befreiung zur Bindung an Gott im Glauben und darin zugleich Befreiung zur Nächstenliebe. Bindung und Freiheit, An- gewiesensein auf andere und Freiheit sind keine Gegensätze, vielmehr ist wahre Freiheit nur in Beziehungen und Bindungen und damit auch in den Grenzen des Angewiesenseins auf andere möglich. Freiheit heißt also zutiefst Befreiung zum Empfangen und zum Gewähren von Liebe, in denen der Mensch erst frei wird und ist.

Bei der Unfreiheit, in die der Mensch in der Sünde sich selbst versetzt, geht es nicht um eine physische Determination, sondern um einen durch den Geist des Menschen gesetzten, durch seinen Willen zur Autonomie gegenüber Gott hervorgebrachten „Fall“ in die Unfreiheit der Selbstsucht, der aus den Naturbedingungen des Lebens nicht ableitbar ist: Aus dieser Gebundenheit des Willens gibt es aber eine Erlösung durch Gott (Römer 7,24f; Galater 5,1). Die Unfreiheit in der Sünde ist also durch die Freiheit Gottes umfasst, den Menschen aus seiner Unfreiheit zu erlösen, den Sünder zur wahren Freiheit der „Kinder Gottes“ im Glauben, in der Bindung an Gott (Römer 8,14ff; Galater 4,5f) zu führen. Freiheit ist also nicht etwas, was der Mensch in sich als Qualität hat, sondern sie ereignet sich im Glauben, der Bindung an Gott als je und je neu geschenkte Befreiung von der Sünde der Selbstsucht zur Freiheit, die in der Liebe tätig wird.

2. Freiheit als menschliches Phänomen

Die dargelegte theologische Sicht der Freiheit unterscheidet sich grundsätzlich von einem naturalistischen Determinismus. Dieser lässt nicht nur keinen Raum für ein Wirken des menschlichen Geistes in der Leiblichkeit des Menschen; sondern erst recht in keiner Weise mehr Raum für die Freiheit und das Handeln Gottes in dieser Welt und im menschlichen Leben. Wenn Gott danach nicht überhaupt nur ein „Hirnprodukt“ ist, so steht er dieser Welt dann doch ebenso ohnmächtig gegenüber, wie das menschliche Subjekt seinem durch Gene und Hirnprozesse angeblich gänzlich determinierten Fühlen, Denken, Wollen und Handeln ohnmächtig ausgeliefert sein soll.

In einem kausal-deterministisch geschlossenen System ist die Zukunft ganz durch die Vergangenheit determiniert. Die Vorstellung, der Mensch gestalte durch seine Entscheidungen seine Zukunft entscheidend mit, ist mithin eine Illusion. Wir tun demnach also nicht, was wir wollen, sondern wir wollen erst nachträglich, was vorgängig zu allem Wollen schon als Ereignis festgelegt ist, was wir aber in unserem Bewusstsein nachträglich unserem Wollen zuschreiben. In Wirklichkeit ratifiziert unser Bewusstsein aber nur eine „Entscheidung“, die im „Gehirn“ vorbewusst ohne Zutun des Bewusstseins schon getroffen ist. Das Subjekt ist also gegenüber den tatsächlichen Geschehnissen ein kausal ohnmächtiger Zuschauer. Die Gegenwart ist nicht Möglichkeit, die offen ist für die Gestaltung der Zukunft durch ein menschliches Subjekt.

Tatsächlich ist es aber so, dass sich die Ereignisse des Lebens nur im Rückblick in einen deterministischen Verlauf einordnen lassen, indem man eine Verknüpfung von Ereignissen herstellt und damit eine kausale Determination konstatiert. Ob das eingetretene Ereignis notwendig so kommen musste, wie es gekommen ist, kann man im nachhinein nicht mehr feststellen und eben damit auch nicht, ob der eingetretene Verlauf auf eine Entscheidung und ein ihr entsprechendes Handeln oder auf eine bloße Determination durch die Vergangenheit zurückzuführen ist. Das muss aber nur so sein, wenn man annimmt, dass das Subjekt mit seinem Entscheidungen sein Handeln überhaupt nicht beeinflussen kann, weil der Bereich physikalischer Phänomene geschlossen ist und mentale Phänomene daher nicht kausal auf diese einwirken können.

Will man dieses Dogma aufbrechen, so muss man zeigen, dass und wie es möglich ist, dass mentale Phänomene die Kraft haben, physische Phänomene wirksam zu beeinflussen. Es stellt sich daher die Frage, ob es auch begründeten Anlass gibt, sich vom Vorverständnis der kausalen Geschlossenheit und dem ganz durch die Vergangenheit bestimmten linearen

Zeitverständnis im Bereich menschlichen Lebens zu lösen und die Ebene der wissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung mit der Erlebnisperspektive des Subjekts und einer mentalen Verursachung zur Übereinstimmung zu bringen, ohne letztere auf erstere zu reduzieren. Dies setzt auf jeden Fall voraus, dass man keine deterministische Geschlossenheit physikalischer und darauf aufbauender biologischer Systeme vertritt, dass mithin das leibhafte Leben ein für die Gestaltung durch den Menschen „offenes Geschehen“ ist.

Es kann aufgrund vieler, nicht nur neurowissenschaftlicher Erkenntnisse nicht mehr bestritten werden, dass es keine unbedingte Freiheit geben kann. Diese Erkenntnis wurde auch in der theologischen Tradition – wenn auch auf ganz anderer Ebene – gewonnen. Wir wissen aber auch, dass die Strukturen unseres Gehirns durch unser Denken und das geistig-kulturelle Leben beeinflusst werden, wenn z.B. subjektive Erfahrungen im Gehirn verarbeitet und dort in einen Zusammenhang mit der im Gedächtnis gespeicherten Lebenserfahrung gebracht werden. Der Mensch ist in der Lage, bestimmte Herausforderungen des Lebens bewusst zu bedenken, zu prüfen und zu verarbeiten, so dass sein Wollen, Entscheiden und Handeln in der Gegenwart durch dieses Nachdenken über sein eigenes Leben, also seine Vergangenheit, und zugleich von einem Vorausplanen der Zukunft bestimmt wird. Die Zukunft wird durch diesen geistigen Akt zwar nicht be- liebig gestaltbar, aber doch durch ein ihm entsprechendes Handeln erst in ihrer konkreten Ausprägung bestimmt, sie ist in ihm schon präsent, auch wenn sie faktisch noch nicht gegeben ist. Ebenso ist die Vergangenheit, auf die die Zukunft im Akt der Entscheidungsfindung bezogen wird, bevor eine Entscheidung fällt, schon als die die Lebensausrichtung und damit auch die konkreten Absichten prägende Größe präsent, denn nur so kann eine Kontinuität in der Lebensführung möglich werden.

Entscheidend an diesem Ansatz ist, dass die Gegenwart und die Zukunft echte Möglichkeit und damit offen für eine aktive Gestaltung durch ein Subjekt sind, sie nicht gänzlich durch die Vergangenheit bestimmt, sondern dem Menschen zur Gestaltung aufgegeben sind, und zwar als eine Integrationsleistung, in der die Zukunft bewusst oder unbewusst auf Vergangenheit und die Vergangenheit aktiv auf Zukunft zu beziehen ist. Der Akt des Entscheidens ist also kein der leiblichen Verfassheit des Menschen entnommener zeitloser Akt, sondern hat selbst eine leibliche und zeitliche Struktur. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der die Zeitebenen integrierende Akt des Wahrnehmens, Nachdenkens, Vorausplanens, Entscheidens und Handelns schon im Vorfeld des bewussten Entscheidens seine neurophysiologischen Spuren im Gehirn zeigt, insbesondere auch das Phänomen der Antizipation der Zukunft in der Form eines Bereitschaftspotentials zum Handeln, bevor es zu einer Entscheidung kommt. Wie anders sollte sonst die Zukunft in den Akt der Entscheidung einfließen. Dies wäre nur erstaunlich und ein Beweis für die Unwirksamkeit des geistigen Akts der Entscheidung, wenn man diesen als zeitlosen Akt jenseits von Raum und Zeit versteht, der dann sekundär gleichsam von außen her ins raum-zeitliche Leben verursachend eingreift oder nicht eingreifen kann, weil dieses ein geschlossenes System sei.

Freiheit ist nach diesem Verständnis begrenzte Freiheit, ein „Nicht- festgelegt-sein“ durch die biologische, psychische und soziale Vergangenheit und der gegenwärtigen Mit- und Umwelt. Es ist Freiheit, die eigene Zukunft und damit auch das Leben in den Grenzen dieser Vorgaben auf Ziele hin zu gestalten, die dem Leben einen Sinn geben, und darin auch Freiheit, sich nicht nur von diesen Vorgaben gänzlich bestimmen zu lassen. Diese konkrete Gestalt von Freiheit ist zum einen in die Leiblichkeit und zum anderen in die Biographie des Menschen eingeordnet. Freiheit realisiert sich daher nicht nur in einzelnen Willensakten und Taten, sondern in der Gestaltung des Lebens auf seine Bestimmung hin. Ein solcher Freiheitsbegriff ist also auf die ganze Lebensgeschichte bezogen und nicht nur auf einzelne Taten. In ihnen spiegelt sich die Grundausrichtung des Lebens wider, und diese wird wiederum von den einzelnen Taten bestätigt, oder diese können ihr auch widersprechen. Die Freiheit des Menschen ist also im Kontext der gesamten leiblichen Verfasstheit – zu denen auch die Triebe, Neigungen, Emotionen gehören – und Lebensführung und der durch sie geprägten Lebensgeschichte zu betrachten. Freiheit zeigt sich sicher nicht zuletzt daran, dass der Mensch als seiner selbst bewusstes Subjekt fähig ist, auch diese naturalen Größen seines Lebens zu bewerten, ihnen eine Richtung zu geben, die den eigenen Lebensvorstellungen entspricht. Dabei ist es allerdings nicht so, dass ein Geist und Wille diesen Größen unabhängig, frei gegenüber steht, sondern das menschliche Wollen ist ein Streben, das selbst wieder durch Triebe, Neigungen, Gefühle mitbestimmt, aber durch sie nicht festgelegt ist. Sie sind uns oft nicht bewusst. Es kommt aber doch darauf an, dass sie im Akt der Entscheidungssuche ebenso wie die bisherige Lebensbiographie möglichst ins Bewusstsein gehoben, bedacht und bewertet werden, damit der Mensch sie als Subjekt mit seinem Willen bestätigen oder zu ihnen Distanz nehmen kann.

Der menschliche Geist und Wille sind in sich vielleicht frei, das als erkannte Gute zu wollen, haben in sich allein oft nicht die Kraft, das Wollen Tat werden zu lassen. Letzteres kann der Wille aber meist nicht aus sich selbst. Zu dieser Freiheit muss der Mensch immer wieder befreit werden, dadurch, dass dem Willen durch entsprechende Motivationen und Gefühle die Kraft zufließt, zu einem dem Wollen entsprechenden Können und zur Tat zu werden. Das schließt ein, dass der Wille durch Triebe, Neigungen und Emotionen auch gefesselt und unfähig werden kann, zu diesen Größen Distanz zu nehmen, wie es an den stofflosen wie stoffgebundenen Süchten am ersichtlichsten wird, wie es aber im Grunde die Grundstruktur des menschlichen Wollens und Handelns überhaupt ausmacht.

Bei diesem Verständnis von Willensfreiheit wird deutlich, dass Freiheit nicht etwas ist, das der Mensch als Qualität besitzt, dass der freie Wille nicht als freier Geist etwas Unfreiem im Menschen frei gegenübersteht, sondern dass sich Freiheit im konkreten Lebensvollzug ereignet, dass Freiheit immer Befreiung von etwas und Befreiung zu etwas voraussetzt, dass der freie Wille als raum- und zeitloser abstrakter Geist ohnmächtig ist und bleibt, wenn er nicht von „tieferen“ Kräften gespeist wird. Nicht nur entspringt allein aus einem Sollen noch kein entsprechendes Wollen, sondern auch aus einem Wollen allein noch kein Können. Für den Apostel Paulus, Augustinus und Luther liegt der Grund dafür in der beschriebenen „Zerrissenheit“ und Ohnmacht des nie „reinen“, sondern immer schon konkret durch Triebe, Neigungen und Gefühle bestimmten Willens. Diese Sicht wird durch die Erkenntnisse der Neurowissenschaften über die Bedeutung der Gefühle für unser Erleben, Denken, Wollen und Handeln belegt. Nur in dem Maße, in dem die Gesamtausrichtung des Wollens, des Strebens und das Wollen einzelner Handlungen durch ihm entsprechende Gefühle mit einer motivierender „Kraft“ geprägt werden, der Wille also mit den Gefühlen durchdrungen und so zu einer motivierenden Kraft wird, kann der Wille sich wirksam in ihm entsprechende Handlungen umsetzen. Der Wille ist also nicht eine dem psychophysischen Leben frei gegenüberstehende „Größe“, sondern ist in den gesamten Lebensvollzug eingebettet.

3. Zur Bedeutung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für ein christliches Verständnis von Freiheit

Nach christlichem Verständnis ist der Wille des Menschen nicht nur durch ihm äußere Verhältnisse unfrei. Gerade indem der Mensch autonom sein, Gottes und vielleicht auch des Mitmenschen nicht bedürfen will, verfällt er an sich selbst, dem Hochmut und der Selbstsucht und damit der Unfreiheit, der Gefangenschaft in der Sünde, die sein Innerstes und damit auch seinen Geist und Willen bestimmt, ja oft beherrscht. Die Unfreiheit unter der Macht der Sünde bezieht sich nicht so sehr auf einzelne Taten als vielmehr auf die grundlegende Lebensausrichtung, auf das Streben des Menschen auf das von Gott gesetzte Ziel des Lebens hin. Sie ist die Verfehlung dieses Ziels. Sie schließt nicht aus, dass der Mensch sich in seinen einzelnen Handlungen selbst bestimmt und dass er seinen Willen Tat werden lassen kann, auch nicht, dass diese einzelnen Taten in ihren Folgen moralisch gut sein können. Damit wird aber nicht das Ziel des Strebens verändert. Dies kann nur geschehen, indem der Mensch in seiner Lebensausrichtung auf Gott hin gewendet wird, indem er also von dem auf sich selbst gewendeten Streben, dem Hochmut und der Selbstsucht befreit wird. Die Freiheit und Kraft, diese Wende zu vollziehen, hat er nicht in sich selbst, sie kann ihm nur von Gott im Glauben geschenkt werden. Deshalb ist Freiheit christlich immer als Befreiung von der Sünde im Glauben an Christus und zugleich als Befreiung zur Gottes- und zur Nächstenliebe zu verstehen. Daher stellt sich die Frage, ob das christliche Verständnis von Freiheit nicht weitgehend unabhängig von einem philosophischen Verständnis von Freiheit als Selbstbestimmung und Autonomie zu verstehen ist und ob deshalb überhaupt von der neurowissenschaftlich-naturalistischen Infragestellung der Willensfreiheit betroffen ist.

Die christliche Freiheit zeigt und bewährt sich gerade in der Grundausrichtung des Lebens auf Gott hin, der der Mensch kraft des Glaubens in seinen einzelnen Entscheidungen und Taten immer neu entsprechen soll. Die christliche Theologie muss daher daran interessiert sein, dass eine solche Form von Freiheit von der geschöpflichen Grundlage her auch möglich ist. Sie kann daher nicht einem naturalistischen Determinismus gleichgültig gegenüber stehen oder ihn gar bejahend aufnehmen; denn dann würde verkannt, dass dieser auch überhaupt keine Möglichkeit für ein Wirken des Geistes Gottes in dieser Welt und im menschlichen Leben offen lässt. Die Welt und der Mensch müssen danach ja notwendig „Gottlos“ gedacht werden.

So stellt sich die Frage, wie Freiheit als Befreiung im Glauben angesichts neurowissenschaftlicher Kenntnisse denkbar ist. Diese weisen auf die große Bedeutung von Emotionen für unser seelisch-geistiges Leben hin, nicht zuletzt für das Denken, Wollen und Handeln. Gefühle ersetzen das Denken und andere geistige Akte nicht, doch können kognitive Leistungen unser Leben nur wirksam bestimmen, wenn sie mit Emotionen besetzt und von ihnen mit Lebenskraft angefüllt werden . Der Wille ist daher immer mitbestimmt durch naturale und psychische Größen, er ist gleichsam auf sie angewiesen, wird von ihnen bewegt und soll sie doch zugleich auch führen. Dies schließt ein, dass er von diesen Größen auch so in Dienst ge- nommen werden kann, dass er seiner Führungskraft beraubt wird. Führen ihn die Neigungen und Emotionen von seiner ihm von Gott gesetzten Lebensbestimmung weg, so wird der derart gefangen genommene Wille zur „Konkupiszenz“ (vgl. Kap. 1). Frei ist der Mensch demnach immer nur in dem Maße, in dem er im Glauben dazu befreit wird, Gott von ganzen Herzen zu lieben und den Nächsten wie sich selbst (Mk 12, 30 f.), wie also das „Herz“, das „Innerste“, das „Gemüt“ des Menschen von der Liebe bestimmt wird.

Die Neurobiologie macht uns wieder bewusst, dass auch der Glaube nicht ohne Gefühle sein kann, dass der Mensch auch auf der Gefühlsebene und nicht nur auf der kognitiven Ebene erreicht und bewegt werden muss. Nur so kann der Glaube ein lebendiger Glaube sein soll, in dem der Mensch Gott „mit allen Kräften des Gemüts“ und „den Nächsten wie sich selbst“ liebt (Mk 12,30). Ein Glaube, der ein bloß kognitiver Akt ist, hat wenig das Leben prägende Kraft, und das Wollen, das seine Kraft nur aus einem von der Vernunft erkannten Sollen bezieht, bleibt den naturalen Trieben, Neigungen und Gefühlen gegenüber oft ziemlich ohnmächtig. Die Befreiung zur Freiheit im Glauben, der durch die Liebe wirksam ist (Gal 5,4), vollzieht sich keinesfalls allein in einem Akt der Selbstreflexion und einem dadurch bestimmten Willen, sondern dadurch, dass der Mensch in seinem Innersten, seinem „Herzen“ und „Gemüt“ von etwas „ergriffen“ wird, was nicht aus ihm selbst kommt, was vielmehr in ihn eindringt, ihn so in seinem bisherigen Streben verändert, ihm die Kraft schenkt, sein Leben neu auszurichten, nicht zuletzt, indem die Vernunft und die Gefühle in Dienst genommen und erneuert werden (Röm 12, 1f). Indem der Geist Gottes dieses Innerste ergreift, vollzieht sich die Befreiung zur „Freiheit der Kinder Gottes“ (Röm 8,14ff), bestimmt dieser „neue Geist“ von hier aus den Menschen. Damit wird nicht bestritten, dass diese Erneuerung auch im „Denken“, im „Nous“ ansetzen und sich in erster Linie hier vollziehen kann und von da aus den ganzen Menschen ergreift, doch meint „Nous“ bei Paulus (Römer 12,2) nicht Vernunft und überhaupt nicht „Rationalität“, sondern vielmehr die Einheit von „Herz und Verstand“, die in der Lage ist zu prüfen, was das Gute, das Gott Wohlgefällige ist, das zu tun ist. Zu dieser Prüfung gehört auch die der Emotionen, denn Emotionen – aber sicher auch die Vernunft – können irren und fehl leiten, wenn sie den Willen allein bestimmen. Auch sie bedürfen daher der Erneuerung durch den Geist Gottes. Daher bedarf der Wille nicht nur der Besetzung durch Gefühle, sondern auch der Orien- tierung durch die vom Geist Gottes erneuerte Vernunft und der Erneuerung der Gefühle, damit er das Gute und Gott Wohlgefällige erkennt und es auch will und durch seinen Willen Tat werden lassen kann (vgl. Röm 7,18). Insofern muss der Wille nicht nur durch die bewussten Leistungen der Großhirnrinde, sondern auch durch die Leistungen des „limbischen Systems“, das unser bewusstes Leben vor allem mit Emotionen besetzt, bestimmt sein, wenn der Wille zu einer Kraft werden soll, die das Leben prägt.

Für das christliche Verständnis von Freiheit als je im Glauben neu geschenkte Freiheit ist es nicht entscheidend, dass der Wille gegenüber den Neigungen und Emotionen frei, autonom ist, sondern nur, dass der nicht von den Emotionen lösbare Wille, das Streben des Menschen offen ist oder werden kann für das erneuernde Wirken des Geistes Gottes an und in ihm. In diesem Sinne muss der christliche Glaube an einer „natürlichen Freiheit“ des Menschen und daran interessiert sein, dass der Mensch ein Subjekt ist, das sich in seinem Wollen und Handeln in den ihm gesetzten Grenzen selbst bestimmen kann und deshalb in diesen Grenzen auch für sein Handeln Verantwortung trägt und die Thesen des naturalistischen Determinismus bestreiten.

Literatur des Verfassers zur Thematik:

Gott im Gehirn? Ich – eine Illusion? Neurobiologie, religiöses Erleben und Menschenbild aus christlicher Sicht. Reihe: Institut für Glaube und Wissenschaft, (R. Brockhaus) Wuppertal 2006, 2. Aufl. 2008

Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie. Ethik in der Praxis, Bd. 23, hrsg. von H.-Sass, (LIT-Verlag) Münster 2005

Neurobiologie und christliches Verständnis von Freiheit und Unfreiheit des Menschen. Überlegungen zur theologischen Relevanz einer aktuellen Diskussion, in: Glaube und Denken. Jahrbuch der Karl-Heim-Gesellschaft 21 (2008), S. 57 – 98

Veröffentlicht in: Psychotherapie & Seelsorge Heft 1 / 2009, S. 28-34

Verwandte Dateien

Kontakt